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Der Schrei lässt sie bis heute nicht los

Es sind nur noch wenige, die die Nazi-Zeit in Vlotho erlebt haben und die der Nachwelt darüber berichten können. Elisabeth Schöning war acht Jahre alt, als in ihrer Stadt die Häuser jüdischer Familien verwüstet und die Synagoge zerstört wurden. Vorstandsmitglieder der Mendel-Grundmann-Gesellschaft haben Elisabeth Schöning in einem Seniorenheim in Niedersachsen besucht. Die Zeitzeugin spricht darüber, wie sie als Tochter einer wohlhabenden Fabrikanten-Familie den 10. November 1938 erlebt hat. Die heute 93-Jährige sagt auch, warum ihre Eltern mit ihr nicht über die Verfolgung jüdischer Menschen gesprochen haben, was aus der einst florierenden Zigarrenfabrik geworden ist und warum Versöhnung ein Herzensanliegen ist.

Anders als im übrigen Reich fanden die Ausschreitungen gegen Synagogen, jüdische Menschen und jüdisches Eigentum nicht am Abend des 9. Novembers, sondern – weil in Vlotho am vorgesehenen Tag gar nichts passiert war – auf Anordnung erst am nächsten Vormittag statt. Auf dem Heimweg von der Schule vorbei an den Häusern der jüdischen Familien habe sie einiges davon mitbekommen, berichtet Elisabeth Schöning.

Verwüstung jüdischer Häuser

In der Schöningschen Villa ist Elisabeth Schöning aufgewachsen.

Vor allem der Schrei eines jüdischen Mädchens lässt sie bis heute nicht los. „Und dann haben wir von der Villa aus durch die Veranda noch mitbekommen, dass auf dem Bahnhof plötzlich ein großer Schrei war. Da kriegte eine Schülerin, die schon nicht mehr in Vlotho zur Schule ging, weil sie wahrscheinlich da Schwierigkeiten hatte und deshalb in Oeynhausen zur Schule ging, gesagt, dass ihr Zuhause verwüstet war. Die haben ja am 10. November alle Häuser der Juden verwüstet, vor allem im unteren Teil von Vlotho. In den Häusern haben die Vlothoer NS-Leute gewirkt und haben da viel Porzellan zerdeppert im wahrsten Sinne des Wortes. Die haben die Schränke leer geräumt, das ,Judenpack‘ wollten sie beschädigen.“

Was hat die kleine Elisabeth später gedacht, als alle jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger aus Vlotho verschwunden waren? „In meiner Kindheit habe ich geglaubt, die sind weggezogen. Wo sollten die auch wohl sonst hin? Ich habe nichts geahnt – die waren weggezogen und sie haben irgendwo anders eine Wohnung. Aber, dass sie inzwischen gar nicht mehr lebten, das wusste ich ja gar nicht. In der Zeit durfte man nicht über Juden sprechen. Das ging erst alles dann viel später nach dem Krieg. Und da habe ich mich auch mehr dafür interessiert.“

Schweigen, um Kind zu schützen

„Die Eltern schützten mich, indem sie nicht darüber sprachen.“ Ihre Eltern hätten die Kinder absichtlich unwissend gehalten, um sie davor zu schützen, sich zu verplappern oder irgendetwas Unvorsichtiges zu erzählen: „Ja, das war schon zu merken, dass sie nicht gerade positiv über die NS-Leute dachten und über die Judenverfolgung schon mal lange nicht. Aber wie gesagt, die schützten eben mich ja auch, indem sie nicht drüber sprachen. Das habe ich meinen Eltern auch nie übelgenommen.“

Dieter Schöning.

Wie so viele andere hätten die Eltern in der Nazi-Zeit aus Angst geschwiegen. Als angesehener Fabrikant sei es ihrem Vater Julius Schöning gelungen, nicht in die Partei eintreten zu müssen. Weil er politisch unbelastet war, wurde er am 3. Mai 1945 als Amtsbürgermeister von Vlotho eingesetzt.

Elisabeth Schöning verließ nach dem Krieg ihre Heimatstadt. Sie kehrte regelmäßig auch für längere Zeit zurück, um ihre inzwischen verwitwete Mutter zu besuchen. Sie stellte Fragen und entdeckte den jüdischen Friedhof: „Als Jugendliche hatte ich nichts von ihm gewusst. Den habe ich erst viel später entdeckt, weil er gegenüber dem anderen Friedhof liegt und auch gegenüber unseren Familiengräbern.“

Schuld und Sühne

Die junge Frau beschäftigte sich mit den von den Deutschen angerichteten Gräueltaten. Mit ihrem Geld unterstützte sie nicht nur den jüdischen Friedhof in Vlotho, sondern vor allem die Aktion Sühnezeichen: „Wir haben zu sühnen in diesen Ländern, in denen wir so viel angerichtet haben. Nicht ich persönlich, aber wir als Volk.“

Versöhnung sei auch ein großes Anliegen von Dieter Schöning gewesen, berichtet Elisabeth Schöning. Ihr Bruder war an der Ostfront während der großen Schlacht bei Rschew 1944 in Kriegsgefangenschaft geraten. Erst 1948 kehrte er zurück nach Vlotho. Als Anfang der 1990er Jahre deutsche Veteranen Kontakt mit Rschew aufnahmen, um den Menschen dort die Hand der Versöhnung zu reichen, war Dieter Schöning dabei. In dem von ihm mitgegründeten „Kuratorium Rschew“ engagierte er sich unter anderem für eine deutsche Kriegsgräberstätte und für einen Friedenspark: „Er wählte nicht den Weg des Hasses, sondern den anderen Weg, weil es ihm auch um die russischen Menschen ging, die er sehr anerkannte. Deshalb braucht man das System ja nicht anzuerkennen.“

Die Zigarrenfabrik Schöning ist längst Vergangenheit. Nach dem Tod von Julius Schöning wurde sie zunächst von Dieter Schöning, dem ältesten Sohn, weitergeführt. In dem Zeitzeugengespräch wird davon berichtet, dass er das Ende der Zigarrenfabrikation und der Heimarbeit vorhergesehen und den Betrieb Anfang der 1970er Jahre rechtzeitig geordnet beendet habe. Elisabeth Schöning: „Er hat das Haus an die Stadt verkaufen können. Das Haus ist dann die Kulturfabrik geworden.“

Über das Gespräch

Elisabeth Schöning beim Zeitzeugengespräch mit (von links):
Hans Jürgen von Lengerke, Angela Winkler & Christoph Beyer.

Das Zeitzeugen-Interview mit Elisabeth Schöning (geboren am 3. November 1930) haben Angela Winkler, Vorsitzende der Mendel-Grundmann-Gesellschaft Vlotho e.V., Vorstandsmitglied Christoph Beyer und ihr Neffe Hans Jürgen von Lengerke in einer Seniorenresidenz in Niedersachsen geführt.

Die Mutter von Hans-Jürgen von Lengerke ist Annemarie von Lengerke, die im Jahr 2012 verstorbene Ehrenbürgerin der Stadt Vlotho. Annemarie von Lengerke ist die älteste Schwester von Elisabeth Schöning. Ein Bruder ist der vielen älteren Vlothoern noch gut bekannte Dieter Schöning (1919 – 2016) der sich um die Versöhnung mit Rschew in Russland verdient gemacht hat. Die Eltern besaßen die im Jahr 1802 gegründete Vlothoer Zigarrenfabrik Schöning, die an mehreren Standorten und in Heimarbeit viele Hundert Personen beschäftigte. Die heutige Kulturfabrik war bis zur Schließung Anfang der 1970er Jahre Schöningsche Zigarrenfabrik. Die Familie wohnte unweit des Vlothoer Bahnhofs in der prunkvollen Schöningschen Villa (abgerissen 2013).

Die Mendel-Grundmann-Gesellschaft bedankt sich dafür, dass Elisabeth Schöning die Arbeit des Vereins mit einer namhaften Spende unterstützt. Ihrem Wunsch entsprechend soll damit besonders die weitere Erforschung und Dokumentation der jüdischen Geschichte Vlothos und dabei vor allem des jüdischen Friedhofs gefördert werden.

Text: Jürgen Gebhard

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