Helmut Althoff war ein kleiner Junge, als in Deutschland die Nazis an die Macht kamen. Als in seiner Heimatstadt Vlotho die Synagoge und die jüdischen Geschäfte verwüstet wurden, war er zehn Jahre alt. Ein Jahr vor Kriegsende wurde er als Jugendlicher eingezogen, um als Flakhelfer feindliche Flugzeuge abzuwehren. In einem im Frühjahr 2023 geführten Zeitzeugengespräch mit der Mendel-Grundmann-Gesellschaft erinnerte er sich an diese Zeit.
Die Eltern von Helmut Althoff hatten in der Langen Straße ein Lebensmittelgeschäft, zunächst gegenüber der Klinik von Dr. Blass im Haus 132, das damals den Elektrizitätswerken Minden-Ravensberg gehörte, später im Haus 122 (heute Markt-Apotheke). 1937 habe sich dann die Möglichkeit ergeben, das Haus Lange Straße 132 vom EMR zu erwerben. Zu dieser Zeit habe man „dem Mittelstand und den kleinen Leuten etwas bieten wollen“, berichtete Althoff, gleichzeitig sei der „Kampf gegen jüdische Großgeschäfte eingeleitet worden“.
Sein Vater war Vorsitzender des örtlichen Einzelhandelsverbandes. In seiner Funktion in der nationalsozialistische Handwerks-, Handels- und Gewerbe-Organisation (NS Hago) habe der Vater in die Partei eintreten müssen und habe sogar eine SA-Uniform gehabt – nach dem Krieg sei er entnazifiziert worden. Er selbst sei „zwangsmäßig“ in der Hitlerjugend und im Jungvolk gewesen, erinnerte sich Helmut Althoff: „Ich musste auch zu Veranstaltungen mit der Fahne hin und ich schimpfte später mit meinem Vater: Du hast eine Uniform im Schrank hängen, aber gehst nirgendwo hin. Ich aber musste da hingehen und musste mitanhören, was für uns als junge Leute uninteressant war.“
Nachbarn und Bekannte der Familie seien Juden, Sozialdemokraten oder Kommunisten gewesen. Viele der schlecht bezahlten Zigarrenarbeiter hätten sich der SPD-Arbeitervereinigung in Vlotho angeschlossen. Handwerker und Maurer, „die damals etwas schärfer rangingen“, seien hingegen meist in der KPD gewesen: „Die Kommunisten, die es hier damals gab, hatten nichts mit den Sowjet-Kommunisten zu tun hatten. Das war ein gewaltiger Unterschied. Und wir sagten damals immer: Die KPD-Leute sind christlicher in ihrem Verhalten als ein Pastor.“
Im elterlichen Geschäft seien auch Mitarbeiterinnen aus dem Umkreis der KPD beschäftigt gewesen. Namentlich erwähnte er eine Verkäuferin, deren Vater wegen seiner politischen Einstellung im KZ gewesen sei: „Ich habe den Mann nach der Entlassung noch einmal gesehen. Der war total abgemagert, total verfallen und ist dann auch bald gestorben.“ Trotz des Verbots und der Verfolgung habe es in der Nazizeit in Vlotho KPD-Gruppierungen gegeben; getarnt als Kaninchenzuchtverein oder Schweineversicherung hätten die sich auch um die Angehörigen inhaftierter Genossen gekümmert.
Im Januar 1944 wurde Helmut Althoff eingezogen, um als 16-Jähriger mit seinen Kameraden am Güterbahnhof in Brackwede und später unter anderem an der Eisenbahnbrücke in Schildesche als Helfer an der Flugabwehrkanone Angriffe englischer Bomber abzuwehren: „Aber die flogen höher, sodass wir sie mit unseren Geschossen nicht erreichen konnten.“
Helmut Althoff berichtete in dem Zeitzeugengespräch mit der Mendel-Grundmann-Gesellschaft auch von den jüdischen Familien in Vlotho: „Als sie dann die gelben Sterne tragen mussten, da hat mein Großvater gesagt: ,Der Silberberg hat für Deutschland im Ersten Weltkrieg gekämpft und hat das Eiserne Kreuz erster Klasse gekriegt. Was soll das jetzt? Ich kann das nicht begreifen.‘“
Viele jüdische Mitbürger seien wie auch die eigenen Eltern angesehene Geschäftsleute gewesen. Bei Rüdenbergs hätten die Vlothoer in Notlagen sogar ohne Aufschlag in Raten bezahlen können. Er selbst sei aus einem anderen Grund gerne in dieses Geschäft gegangen: „Ich habe dort immer Schokolade bekommen.“
Der Tag, an dem in Vlotho die Synagoge und die jüdischen Geschäfte und Wohnungen zerstört wurden, war Helmut Althoff besonders in Erinnerung geblieben. Über die Ereignisse an jenem 10. November 1938 berichtete er: „Wir kriegten eher frei in der Schule. Auf der Straße standen viele Leute. Bei Loebs vor der Tür war so viel Gedöns. Da sind wir hingegangen. Ich habe gesehen, wie da gehaust wurde. Die Tresen und Scheiben wurden zerschlagen. Die Sachen flogen oben aus dem Fenster.“ In der Stadt beim Darmhandel Silberberg seien die Fässer mit den Därmen für die Schlachter ausgekippt worden. Ein alter Mann sei getreten, ein anderer in den Bach getrieben worden und in einem Haus am Höltkebruch sei das Wasser aus den aufgedrehten Hähnen die Treppe hinabgeflossen. Als Täter habe er mehrere Vlothoer erkannt, zum Beispiel Paul Exner, Krummen Willi und einen Mowe.
Ja, in Vlotho sei am 9. November, als überall anders im Reich die Synagogen brannten und die jüdischen Geschäfte verwüstet wurden, alles ruhig geblieben: „Irgendwo ist es aufgetaucht, dass in Vlotho da nichts passiert war. Das geschah dann erst einen Tag später.“
Die Bevölkerung habe aus Angst geschwiegen. Wohl jeder habe jemanden gekannt, der in jener Zeit verschwunden sei. Nicht nur Juden, auch Behinderte. Wie der Junge der Stegelmeiers (?), „der war dann weg und verschwunden“. Helmut Althoff berichtete von der Schwester einer Frau Sassenberg: „Die wohnte in Brackwede und war Hebamme in Bethel. Die hat gesagt, ich übe meinen Beruf nicht mehr aus. Sind mir zu viele Kinder verschwunden. Und die hat mir angedeutet, dass die Leute, die als unwürdiges Leben galten, nicht mehr da wären. Das konnte sie nicht aushalten, da hat sie aufgehört. So war das damals.“
In dem Zeitzeugen-Gespräch erwähnte Helmut Althoff auch Luftangriffe auf Vlotho. Ganz in der Nähe seines Wohnhauses an der Wasserstraße seien Bomben gefallen, die eigentlich die Eisenbahnbrücke treffen sollten: „Dann haben wir gesehen: Die scheiß Brücke steht immer noch. Das heißt mit anderen Worten: Die kommen wieder!“
An der Herforder Straße, etwa gegenüber dem heutigen Autohaus Schnieder, hätten in einem Lager Kriegsgefangene gelebt, die tagsüber oft in ihren alten Berufen bei heimischen Handwerkern beschäftigt waren. Nach dem Krieg seien die Franzosen als Polizisten eingesetzt gewesen: „Die kriegten Gewehre ausgeliefert und patrouillierten durch die Innenstadt.“ Russen seien besonders schlecht behandelt worden: „Die hatten wirklich nichts zu essen.“ Polnische Frauen hätten als Zwangsarbeiterinnen auf Bauernhöfen gearbeitet, wo sie nicht gemeinsam mit den Familien an einem Tisch sitzen durften: „Das war grundsätzlich verboten“. Ein Werftbesitzer aus Uffeln und ein Bauer aus Steinbründorf seien von Zwangsarbeitern aus Rache für die schlechte Behandlung erschossen worden.
Zur Person: Helmut Althoff war in der Gewerkschaft und seit dem Jahr 1953 in der SPD seiner Heimatstadt aktiv. Er übernahm den elterlichen Konsum, in dem er seine spätere Ehefrau kennengelernt hatte, und leitete später ein Lebensmittelgeschäft in Minden. In den 1970er Jahren wechselte er in die Kreisverwaltung, wo er als Sachbearbeiter tätig war. Helmut Althoff engagierte sich in seiner Heimatstadt Vlotho ehrenamtlich unter anderem als Ratsherr und Sozialbetreuer. Einen Tag nach seinem 96. Geburtstag ist er am 4. April 2024 verstorben.
Das Zeitzeugengespräch der Mendel-Grundmann-Gesellschaft wurde am 22. März 2023 von Angela Winkler und Jürgen Gebhard geführt.