Thomas Gräfe hat über historische Umfragen zum Judentum geforscht. Die Frage der Volkszugehörigkeit der Juden wurde um die Wende in das 20. Jahrhundert und in den drei folgenden Jahrzehnten unterschiedlich beantwortet. Das dokumentieren Umfragen über Judentum und Antisemitismus aus den Jahren 1885 bis 1932. Historiker Thomas Gräfe hat in einer wissenschaftlichen Arbeit zu den damaligen Umfragen zum Thema „Was halten Sie von den Juden?“ recherchiert.
Diese Arbeitsergebnisse hat er jetzt bei der Mendel-Grundmann-Gesellschaft (MGG) vorgetragen. Thomas Gräfe wohnt seit 2017 in Vlotho und ist als Nachfolger von Manfred Kluge Beisitzer im Vorstand der Mendel-Grundmann-Gesellschaft. Er hat als freier Historiker in Forschungsprojekten der TU Dresden und der TU Berlin zur Geschichte des Antisemitismus gearbeitet. Als einen großen Gewinn für die Mendel-Grundmann-Gesellschaft bezeichnete ihn Vorsitzender Ralf Steiner in seiner Begrüßung zu Beginn der Veranstaltung im St. Johannis-Gemeindehaus. In akribischer Fleißarbeit hat Thomas Gräfe acht umfangreiche Befragungen von Intellekturellen unter die Lupe genommen, die zu den Themen „Judentum und Antisemitismus in den Jahren 1885 bis 1932“ von deutschen und österreichischen Journalisten durchgeführt worden waren.
Für ein möglichst repräsentatives Meinungsbild wurden damals prominente Christen und Juden, Konservative, Liberale und Sozialisten befragt. Gräfe: „Ab 1893 wurden dann auch Frauen in die Befragung miteinbezogen.“ Diese Quellen zeigten, so Gräfe, wie sich im gebildeten Bürgertum ein Gesinnungswandel in der Zeit zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik in Bezug auf den Antisemitismus sowie die Vorstellungen vom Zusammenleben von Mehrheiten und Minderheiten vollzogen habe. Die Antworten bewegten sich zwischen Theorien von Assimilation, über eine positive Sicht des ethnischen Pluralismus bis hin zu unversöhnlichen Meinungsäußerungen in der Weimarer Republik. So sei bis etwa 1900 – nach den Vorstellungen der Befragten – die Integration durch Assimilation zu erreichen. Die Einstellung habe sich mit dem Erstarken von Zionismus und völkischem Nationalismus verändert.
Assimilation bedeutete, die Juden zu „nützlichen Staatsbürgern“ erziehen. Ziel war es, das Judentum im Staat aufgehen zu lassen. Jüdisches Brauchtum und die Volkseigentümlichkeiten sollten dafür aufgegeben werden. Dass die Juden trotz aller Integrationsbemühungen bis zur Selbstaufgabe immer noch als Fremde angesehen würden, sei dabei jedoch eine berechtigte Befürchtung der Assimilationsbefürworter geblieben. Ethnopluralistische Konzepte des Zusammenlebens gewährten den Juden zwar ein Mehr an kultureller Eigenständigkeit, hatten aber die verheerende Nebenwirkung, dass sie nicht mehr als Deutsche angesehen wurden, die man gegen Anfeindungen verteidigen müsse, so Gräfe.
Elitäre Kreise der in der Weimarer Republik Befragten, hätten die Assimilation überwiegend für einen Irrweg gehalten, nachdem völkische Rassenlehren weiter Zulauf gewonnen hätten. Habe der Schriftsteller Thomas Mann in den Juden noch eine kulturelle Belebung gesehen, so seien sie dann von den Antisemiten „als Rasse, die als Schmarotzer im Volk lebt“, verunglimpft worden. Der Text des Vortrags ist über die Mendel-Grundmann-Gesellschaft oder den Buchhandel erhältlich.
Autorin dieses Beitrages: Gisela Schwarze