Unterlagen der Silberbergs

Wer sich über die Geschichte Vlothos informieren will, ist noch heute auf das Buch des Lehrers und Heimatkundlers Karl Großmann (1896-1981) aus dem Jahr 1971 angewiesen. Seine Darstellung des Dritten Reiches ist äußerst knapp und lückenhaft. Immerhin verschweigt Großmann die Judenverfolgungen nicht und hält über die Deportationen fest: „Nach Vlotho kehrte keiner zurück.“ Doch das stimmt nicht.

Henny Silberberg und ihre Tochter Marianne (eigentlich Jutta), im Juli 1942 deportiert, überlebten die Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz. Noch im Oktober 1944 waren sie in ein Außenlager von Groß-Rosen (Schlesien) verschleppt worden. Von dort kehrten sie im Oktober 1945 nach Vlotho zurück.

Auf ihrem Antragsformular für Hilfen für ehemalige KZ-Häftlinge gab Henny Silberberg an, dass ihr Mann in Auschwitz umgebracht und sie selbst mit Schlägen misshandelt wurde. Der begutachtende Beamte setzte hinzu: „die Vorgänge in den Konzentrationslagern und die Behandlung der Juden dort, sind allgemein bekannt.“ Die Anerkennung als NS-Opfer und die Einleitung von Entschädigungsleistungen gingen zwar schnell vonstatten, doch ausweislich der Erinnerungen von Marianne Silberberg war die Reaktion der Vlothoer auf ihre Rückkehr kühl und abweisend.

Wenig Mitgefühl

Antrag H. Silberberg
Antrag J. Silberberg

„Leute, von denen wir meinten, sie würden froh sein, uns wiederzusehen, zeigten wenig oder gar kein Mitgefühl.“ Die Bürger fühlten sich nicht nur an eigene Schuld erinnert. Vor dem Hintergrund der allgemein schwierigen Versorgungslage in der unmittelbaren Nachkriegszeit dürfte auch Neid eine gewisse Rolle gespielt haben. Aufgrund der Anordnung der Besatzungsmächte wurden NS-Opfer bevorzugt versorgt und entschädigt. Doch wegen bürokratischer Hürden und dem Ausschluss ganzer Opfergruppen, erfasste die Regelung nur einen Bruchteil der Geschädigten. Viele Personen mussten sich ihren Opferstatus teils bis in die 1990er Jahre aufwändig vor Gericht erstreiten.

Die Vlothoer Stadtverwaltung handelte im Fall von Henny und Marianne Silberberg unbürokratisch und hielt sich bei ihrer Unterbringung und Versorgung an bekannte Altnazis. Sie quartierte die Silberbergs in das Haus von Louis Steinberg in der Mühlenstraße ein. Der Amtsinspektor Moritz Reese, dem das Gebäude im Zuge der Arisierung zugeschanzt worden war, musste es wieder abgeben. Die Einrichtung beschlagnahmte die britische Militärpolizei in der Wohnung des inzwischen inhaftierten Vlothoer SS-Oberscharführers Erwin Kambartel.

Auswanderung in die USA

Ausweis H. Silberberg
Ausweis J. Silberberg

Henny Silberberg konnte aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands nicht arbeiten und erhielt keine Hinterbliebenenrente, da ihr Mann nicht offiziell für tot erklärt worden war. Die Silberbergs sahen in Vlotho keine Perspektive. „Jeder Atemzug und jeder Schritt in Vlotho erinnerte uns an unsere Familienangehörigen und an jüdische Nachbarn und Freunde, die nicht mehr zurückkamen.“ Im März 1947 wanderten Henny und Marianne Silberberg in die USA aus. Erst im Rahmen der „Jüdischen Woche“ 1988 besuchte Marianne Silberberg wieder ihre Heimatstadt.

Hat Karl Großmann als Historiker nur unsauber gearbeitet? Wahrscheinlicher ist, dass er als ehemaliges Mitglied der NSDAP und des NS-Lehrerbundes seinen noch lebenden Parteigenossen diese peinliche Episode ersparen wollte. Das war durchaus symptomatisch für den Umgang mit der Geschichte des Dritten Reiches in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Man kannte das Ausmaß der Verbrechen, wollte von ihren Nachwirkungen aber nicht behelligt werden. Altnazis passten da ebenso wenig ins Bild wie Holocaustüberlebende.

Karl Großmanns NS-Vergangenheit war allgemein bekannt, wurde aber ignoriert. Die Stadt Vlotho fand noch 1982 nichts dabei, ihn mit einem Straßennamen zu ehren. Umbenennungsdebatten wird man sich sparen können, denn gegen Geschichtsvergessenheit hilft nicht politische Korrektheit, sondern nur Erinnern. Außerdem handelt es sich um eine winzige Sackgasse. Eine treffliche, wenn auch wahrscheinlich unbeabsichtigte, Symbolik.

Von  MGG-Vorstandsmitglied Thomas Graefe, veröffentlicht in der Vlothoer Zeitung am 9. November 2021

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