Chanukka-Leuchter aus Vlotho

Die Geschichte dieses Chanukka-Leuchters ist eine Geschichte der Umwege und Zufälle.

Im Mittelpunkt steht die Schülergruppe NETZWERK des Bünder Gymnasiums am Markt. Sie beschäftigt sich seit Jahren unter ihrer Lehrerin Christina Whitelaw intensiv mit der jüdischen Geschichte Bündes. Sie hat u. a. die Verlegung von so genannten „Stolpersteinen“ durch den Künstler G. Demnig in Bünde initiiert. Sie pflegt Kontakte zu jüdischen Familien und jüdischen Gemeinden in Amerika. 2003 bekam die Netzwerk-Gruppe den 1. Preis im Schülerwettbewerb „Erinnern für Gegenwart und Zukunft – Toleranz gewinnt!“


2004 unternahm die Gruppe eine Studienfahrt nach Holland. Im Rahmen der Holland-Exkursion wurde auch eine Synagoge besucht. An der Fahrt nahm auch Frau Franke aus Bünde, die als Zeitzeugin mit der Schülergruppe zusammenarbeitet, teil. Wie in jeder Synagoge stand auch hier ein siebenarmiger Leuchter in dem jüdischen Gotteshaus. Beim Anblick des Leuchters sagte Frau Franke spontan zu einem Schüler der Netzwerk-Gruppe: „Ich kenne jemanden, der auch so einen Leuchter zu Hause hat. Der Leuchter stammt aus Vlotho“.


Der angesprochene Schüler war Christoph Kleineberg, ein führendes Mitglied der NETZWERK-Gruppe. Da zwischen der Bünder Schülergruppe und der Mendel-Grundmann-Gesellschaft seit 2003 lose Kontakte bestanden, hatte Christoph Kleineberg gleich die Idee, den Leuchter, von dem Frau Franke sprach, nach Vlotho zurückzugeben, und zwar an den Verein, der sich seit Jahren mit der Geschichte der Vlothoer Juden, mit dem Leben und dem Schicksal der jüdischen Bürger beschäftigt, also der Mendel-Grundmann-Gesellschaft.

Bei einem sogenannten „Zeitzeugen-Kaffeetrinken“, das die NETZWERKER im Oktober 2005 veranstalteten, trafen Frau Franke aus Bünde und Manfred Kluge, Schriftführer der Mendel-Grundmann-Gesellschaft Vlotho, zusammen. Frau Franke hatte den Leuchter, den sie für eine Menora hielt, mitgebracht. Es konnte aber bald geklärt werden, dass es kein siebenarmiger Leuchter war, sondern ein Leuchter, der ursprünglich acht Arme hatte – ein Chanukka-Leuchter! Der Leuchter ist allerdings beschädigt. Ein äußerer Arm fehlt ganz, der entsprechende Arm auf der anderen Seite ist abgebrochen. Auch fehlt der Arm für die Dienerkerze.

Bei der Übergabe des Leuchters erzählte Frau Franke folgende Geschichte über den Leuchter:
1948 habe ein Vlothoer Bürger, dessen Namen sie nicht nennen wolle, einem Herrn in Bad Oeynhausen, den sie jetzt betreut, diesen beschädigten Leuchter angeboten. Der ungenannte Vlothoer will damals, also am 10. November 1938, als Hitlerjunge den Leuchter aus den Überresten der zerstörten Synagoge geborgen und mit nach Hause genommen haben. 1948 wechselte der Leuchter im Tausch gegen ein nützliches Werkzeug den Besitzer. Der Oeynhauser Bürger, der den Leuchter erwarb, muss eine positive Einstellung zum Judentum gehabt haben, sonst hätte er den beschädigten Leuchter nicht erworben.

Nach Angaben von Frau Franke stammt der Herr aus Bad Oeynhausen aus einer sozialdemokratisch geprägten Familie. Der Vater war gut bekannt mit einem jüdischen Bürger aus Bünde, namens Spanier, einem Kriegskameraden aus dem 1.Weltkrieg. Frau Franke weiß auch zu berichten, dass der Vater in der Nazizeit seinem Sohn nicht erlaubte, in die HJ einzutreten. Im 2.Weltkrieg kam der Oeynhauser als Soldat in amerikanischen Kriegsgefangenschaft und wurde in die USA verbracht. Dort verdankte er sein Leben zwei jüdischen Ärzten, die ihn vorbildlich behandelt hätten.

Nach der Hollandfahrt im Jahre 2004 hat Frau Franke den älteren, jetzt pflegebedürftigen Herrn, wegen des Leuchters angesprochen und ihn überzeugt, den Leuchter über sie nach Vlotho zurückzugeben. Diese Übergabe erfolgte – wie dargestellt – im Oktober 2005 über die Gruppe NETZWERK in Bünde.

Der Leuchter ist damit in das Eigentum der Mendel-Grundmann-Gesellschaft übergegangen. Da die Mendel-Grundmann-Gesellschaft über keine eigenen Ausstellungsräume verfügt, wurde ein würdiger Ausstellungsort gesucht. Die Dokumentationsstätte Alte Synagoge in Petershagen erschien uns ein würdiger Ort für die dauerhafte öffentliche Präsentation, bis in Vlotho ein geeigneter Raum zur Verfügung steht. So ging der Leuchter als Leihgabe an den Verein Alte Synagoge in Petershagen.

Einige kritische Anmerkungen zur Geschichte des Leuchters:
Ob der Leuchter wirklich aus der Synagoge stammt, erscheint fraglich. Die bescheidene Größe des Leuchters weist eher auf privaten Besitz hin.

Eine Anfrage an das Jüdische Museum in Dorsten brachte auch keine Klarheit in dieser Sache. Obwohl die Synagogen-Leuchter häufig 80 – 100 cm hoch seien, gäbe es auch Leuchter in vergleichbarer Größe (etwa 40 cm hoch), die in Synagogen verwendet wurden. Zum Schluss heißt es in dem Schreiben des Jüdischen Museums: „Andererseits kann Ihr Einwand, dass vergleichbare Leuchter auch und vor allem in Privathaushalten genutzt wurden, nicht aufgehoben werden.“

Dass das Chanukkafest, das immer in unsere Weihnachtszeit fällt, in jüdischen Familien Vlothos gefeiert wurde, ist bekannt und durch die Briefe der Familie Loeb belegt. So schreibt Gustav Loeb am 29. 12. 1940 an seinen nach Amerika ausgewanderten Sohn: „Wir befinden uns mitten in der Chanukkawoche. Gerade sind die Lichter am 6. Tage von uns angesteckt worden... Du wirst Dich solcher Abende ... gewiß noch erinnern...“

Am 10. November 1938 wurde nicht nur die Synagoge zerstört, sondern wurden auch die Wohnungseinrichtungen in allen jüdischen Haushalten demoliert. Es ist also denkbar, dass sich unter den Hausratsgegenständen, die häufig auf die Straße geworfen wurden, auch ein Chanukkaleuchter befand. Beim Kaufhaus Loeb wurden z. B. nicht nur Bekleidungsstücke und Stoffe auf einen Haufen getürmt, sondern auch Hausratsgegenstände, wie z. B. eine wertvolle Vase, aus dem oberen Stock auf den Kirchplatz geworfen, vielleicht auch ein solcher Leuchter ...

Die Mendel-Grundmann-Gesellschaft ist dankbar, dass dieser Chanukkaleuchter, der mit ziemlicher Sicherheit nach den Angaben der Beteiligten aus Vlotho stammt, wieder in Vlothoer Hände gelangt ist. Es ist eine konkrete Erinnerung an jüdische Festtage, jüdische Kultur und jüdisches Leben, was es einst hier in Vlotho gab, aber heute nicht mehr existiert.

Dass dieser Leuchter durch Gewalteinwirkung beschädigt worden ist, ist ein symbolträchtiger Hinweis auf die zerstörerische Gewalt, mit der schließlich alles jüdische Leben in unserer Stadt vernichtet wurde. Insofern ist dieser Leuchter in seiner Beschädigung Erinnerung und Mahnung zugleich.

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