Mendel-Grundmann-Gesellschaft e.V.

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Wieso die „ermordeten und verjagten Vlothoer Juden“ nicht vergessen sind.

Im Jahr 1964 kommt Helmut Urbschat als junger Gymnasiallehrer aus der Großstadt nach Vlotho und macht sich ziemlich schnell unbeliebt. Das Internet und mit ihm Instagram, TikTok und Co. sind noch nicht erfunden. Also begnügt man sich im Nachkriegsdeutschland mit Briefen und gehässigem Gerede. Heutzutage würde man von einem Shitstorm sprechen. – Was war geschehen in dem kleinen verschlafenen Weserstädtchen? Und wie kam es dazu, dass bald darauf ein Verein gegründet wurde, der bis heute die Erinnerung an die ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger wachhält?

„In Vlotho wurde mir in meinem Religionsunterricht klar, dass die Mädchen und Jungen nichts von der jüdischen Geschichte ihrer Stadt wussten“, erinnert sich Helmut Urbschat viele Jahrzehnte später in einem Zeitzeugengespräch. Der junge Gymnasiallehrer, der sich gerade mit Ehefrau und drei kleinen Töchtern in Vlotho niedergelassen hatte, veröffentlichte einen Leserbrief im Vlothoer Wochenblatt und fragte: „Sind eure Vlothoer Juden schon vergessen?“ Er schlug vor, einen Gedenkstein für die „ermordeten oder verjagten Juden“ zu errichten.

Die Öffentlichkeit reagierte – freundlich formuliert – sehr reserviert. „Die meisten wollten damals darüber nicht sprechen“, blickt Helmut Urbschat zurück.

Viel Ablehnung in der Stadt, große Unterstützung von Pfarrer Barth: Große Unterstützung hingegen habe er von Hermann Barth erhalten: Ohne den Pfarrer von St. Johannis, der „dienstliche und private Verbindungen“ zu dem bekannten Schweizer Theologen Karl Barth hatte und in den Nazijahren zur Bekennenden Kirche gehörte, wäre es nie zur Gründung der Mendel-Grundmann-Gesellschaft gekommen. „Da kam der Gedanke auf, man müsste erst mal die überlebenden Vlothoer Juden wiederfinden.“

Wilhelm „Bubi“ Tölle, der rasende Reporter vom Vlothoer Wochenblatt, gab Hinweise auf im Ausland lebende Vlothoer Juden. „Besonders wertvoll für mich war Hans Loeb in Missouri, USA, der mein Freund und später unser Ehrenbürger wurde.“

Im Februar 1965 schrieb der junge Studienrat auf Englisch an Hans Loeb, „weil ich meinte, dass er nicht versessen wäre auf die Sprache der Leute, die seine Eltern umgebracht haben“. Hans Loeb antwortete sofort. Und zwar auf Deutsch: „Mein lieber Herr Urbschat, nicht im Entferntesten hätte ich mir träumen lassen, einen Brief wie den Ihrigen zu bekommen, denn er bringt zum Ausdruck, was dem offiziellen Vlotho nach dem Krieg stets hätte am Herzen liegen sollen.“

Und weiter: „Ich kann mir gut vorstellen, wie viel Mut es braucht, einige der schuldigen Bewohner an ihre braune Jugend zu erinnern. Sie werden sich bei vielen Eltern unbeliebt machen, deren Kinder peinliche Fragen stellen könnten, wenn Sie weiter diese Saat ausstreuen durch Ihre geplanten Aktivitäten. Sie schreiben mir als fremder Mensch, und doch kommt es mir vor, als ob ich Sie gut kennen würde. Leider sind Leute wie Sie in dieser gequälten Welt dünn gesät.“ Das von ihm vorgeschlagene Mahnmal könnte ein richtiger Schritt sein, meinte Loeb: „Wenn die Bürger Vlothos diesen Schritt tun wollten, wäre das sehr anständig. Es wäre ein Symbol und ein Aufruf zur Toleranz unter den Menschen ohne Ansehen der Herkunft, der Rasse, des Bekenntnisses oder der Nationalität.“

Dieses Schreiben ermunterte zum Weitermachen. Bereits im März 1965 wurde auf Helmut Urbschats Initiative hin im voll besetzten Saal der evangelischen St. Stephans-Gemeinde im Beisein des Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen erstmals der „Toten der Jüdischen Gemeinde Vlothos“ gedacht. Um das Mahnmal realisieren zu können, wurde ein Verein gegründet.

Im weiteren Briefwechsel mit Stephen Hans Loeb sei es darum gegangen, ein Mahnmal für Vlothos Jüdinnen und Juden zu errichten. Um das Mahnmal realisieren zu können, wurde ein Verein gegründet.

Nicht alle fanden das gut. Im Archiv der Mendel-Grundmann-Gesellschaft findet sich dieser mit Maschine geschriebene Brief:

Herrn Helmut Urbschat Vlotho

Sie sind der komischste Waldheini des 20. Jahrhunderts. Juden wollen Sie ein Denkmal setzen. Hat Sie schon mal ein Jude auf den Arm geholt, dann suchen Sie mal seine Gesellschaft. Wer Sie zum Studienrat gemacht hat, gehört ans Kreuz geschlagen. Ziehen Sie schnell die Brücke und lassen Sie sich versetzen, sonst versetzen wir Ihnen eine, aber fragen Sie nicht wie. Sammeln wollen Sie auch noch für Ihre Freunde. Wir machen Ihnen einen Vorschlag. Sie veranstalten die Sammlung und finanzieren damit Ihre schnelle Reise nach Israel. Schieben Sie es nicht auf die lange Bank, sonst sehen wir schwarz für Ihr weiteres Fortkommen. Wer in Vlotho ein bisschen auf sich hält ,spuckt in Zukunft vor Ihnen aus. Die Jugend dankt für derartige Erzieher, Sie Mistvieh. Stellen Sie sich bis zur Abreise unter Polizeischutz, es stinkt an allen Ecken.

Die Vlothoer

I.A. Dickmeier

Zum Namensgeber des neuen Vereins wurde mit Zustimmung der in England lebenden Angehörigen Mendel Grundmann bestimmt – ein jüdischer Wohltäter, der Baugrundstücke günstig an bedürftige Familien verkauft hatte. An ihn erinnert seit den 1920er Jahren auf dem Winterberg die Mendel-Grundmann-Straße – die von den Nazis zwischenzeitlich zur Deutschen Straße gemacht wurde.

Die Gründungsurkunde der Mendel-Grundmann-Gesellschaft wurde am 14. Oktober 1965 unterschrieben von Hermann Barth (Pfarrer an St. Johannis, der der erste Vorsitzende wurde), Ernst Albrecht (Bürgermeister), Dr. Hans Hohenstein (Stadtdirektor), Werner Rietz (Jugendhof-Leiter – und wie später öffentlich bekannt wurde – in der Nazi-Zeit Angehöriger der SS), Erika Rohlfing (Mitarbeiterin der Stätte der Begegnung), Ernst Eschrich (katholischer Pfarrer von Heilig-Kreuz) und Helmut Urbschat.

Der Verein habe sich mit zwei Entwürfen für das Mahnmal beschäftigt: ein Entwurf mit Rundbogen, der andere – der letztlich realisiert wurde – mit den drei Stelen. „Bei der Gelegenheit habe ich auch etwas gegen bewährte jüdische Traditionen gemacht. Ich habe gesehen, dass auf dem Judenbrink, dem längst aufgegebenen Friedhof hinter dem Bahnhof, sehr viele abgebrochene jüdische Grabsteine waren. Ich hatte Kontakt zu einer Pionier-Einheit der Bundeswehr in Minden. Die sind mit ihren schweren Fahrzeugen gekommen und haben die Grabsteine geholt, um sie auf dem jüdischen Friedhof in der Stadt aufzustellen.“

Das Mahnmal mit den Namen aller Vlothoer Holocaust-Opfer wurde dort am 7. September 1969 durch den Landesrabbiner geweiht. Hans Loeb hielt eine ergreifende Ansprache. Der Ort am Rande des jüdischen Friedhofs an der Wasserstraße, auf dem die zu gleichen Teilen von der Westfälischen Landeskirche und der Stadt Vlotho finanzierte Gedenkstätte gebaut wurde, sei bis dahin eine leere Fläche gewesen, erinnert sich Helmut Urbschat im Zeitzeugengespräch.

Die erst vor kurzem aufgearbeitete Vergangenheit des St. Johannis-Gemeindehauses von Pfarrer Hermann Barth, der früheren Villa Grundmann, sei in all den Jahren nie ein Thema gewesen. „Ich weiß nicht, wie der Übergang zum Gemeindehaus in der Nazizeit gewesen ist. Ich kannte das nur als Gemeindehaus. Ich habe erst bei der Stolperstein-Aktion wahrgenommen, dass das ein altes jüdisches Gebäude ist“, stellt Helmut Urbschat fest.

Mit dem Bau des Mahnmals hatte die Mendel-Grundmann-Gesellschaft erst einmal ihren Vereinszweck erfüllt. Nach einer längeren Pause ist dieser gemeinnützige Verein seit Mitte der achtziger Jahre wieder aktiv. 50 Jahre nach der berüchtigten „Reichskristallnacht“ lud die Stadt Vlotho 1988 die noch lebenden ehemaligen jüdischen Mitbürger ein. „Nach einem Spendenaufruf hat die Mendel-Grundmann-Gesellschaft etliche tausend D-Mark bekommen“, erinnert sich Helmut Urbschat. Feierlicher Höhepunkt war die Enthüllung des Synagogen-Gedenksteins am Weser-Center. Doch auch noch zu dieser Zeit habe es große Zurückhaltung in der Bevölkerung gegeben: „Sue Altermann, geborene Silberberg, wurde von den ehemaligen Nachbarn praktisch nicht wahrgenommen, als sie bei der jüdischen Woche wieder in Vlotho war.“

Die Mendel-Grundmann-Gesellschaft hält weiterhin die Erinnerung an die ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger wach und hat dazu zahlreiche Schriften veröffentlicht. Das Engagement des Vereins ist 2008 mit der Verleihung des Obermayer-History-Awards in Berlin gewürdigt worden. Die Mendel-Grundmann-Gesellschaft arbeitet seit einigen Jahren eng mit dem Weser-Gymnasium zusammen. Im Vlothoer Bündnis engagiert sich der Verein gegen Rechtsextremismus.

Der heutige Ehrenvorsitzende Helmut Urbschat gab den Vorsitz im März 2008 an Pfarrer Ralf Steiner ab. Seit September 2020 ist die ehemalige Pastorin Angela Winkler Vorsitzende. Helmut Urbschat befürwortet die Initiative der Mendel-Grundmann-Gesellschaft, Hans Loeb eine öffentliche Ehrung zuteil werden zu lassen und den Kirchplatz, an dem die Familie Loeb ihr Geschäft hatte, nach dem Ehrenbürger zu benennen

Zur Person: Helmut Urbschat (geboren am 10. Oktober 1932) stammt aus einer Pastorenfamilie in Pommern. Er wuchs in Frankfurt/Oder und in Berlin-Schönefeld auf. Nach dem Abitur in Leer/Ostfriesland studierte er in Göttingen und Bonn Evangelische Religionslehre und Latein für das Lehramt. Nach dem Vorbereitungsdienst in Köln bewarb er sich beim Weltrat der Kirchen in Genf um einen Auslandaufenthalt in New York. Er bekam ein Stipendium für Toronto/Kanada. Dort lernte er seine spätere Frau Bonita kennen. Knapp zwei Jahre später, „verlobt, verheiratet und mit unserer Tochter Katharina“, kehrte die kleine Familie per Schiff nach Deutschland zurück. Zwei Jahre arbeitete er als Studienassessor an einem Gymnasium in Essen, wo er einen ehemaligen Kollegen aus der Ausbildung wiedertraf: Ernst-Gust Krämer, „er war ein echter Kölscher“. Beide ließen sich Anfang der 1960er Jahren zum Gymnasium nach Vlotho versetzen. Helmut Urbschat wollte befördert werden („Ich hatte die falsche Vorstellung und meinte, ich muss irgendwo Direktor werden – das bin ich nie geworden“), ging ins Ruhrgebiet und kehrte nach zwei Jahren als „Wochenendpapa“ zurück nach Vlotho. Seine neue Schule wurde das Königin-Mathilde-Gymnasium in Herford. Fast 20 Jahre (ab April 1975) engagierte er sich für die Vlothoer SPD als Ratsherr, zeitweise als Fraktionsvorsitzender. Er ist Gründungsmitglied der Mendel-Grundmann-Gesellschaft, war Vorsitzender und ist jetzt Ehrenvorsitzender. Vor einigen Jahren ist er mit seiner inzwischen verstorbenen Frau Bonita von Vlotho ins Stift zu Wüsten umgezogen.

Jürgen Gebhard