Mendel-Grundmann-Gesellschaft e.V.

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Nach der Grundlagenarbeit von Thomas Gräfe:

Ergänzende Gedanken von Winfried Reuter

Bevor ich ausführlicher auf den konkreten Inhalt des Artikels von Thomas Gräfe eingehe, möchte ich mich ausdrücklich bei ihm bedanken, dass er den Kauf der Villa Grundmann durch unsere Reformierte Gemeinde im September 1936 und das diesen Kauf betreffende Wiedergutmachungsverfahren in den Nachkriegsjahren so ausführlich und akribisch recherchiert und mit Hilfe seines profunden historischen Wissens über die Verfolgung jüdischer Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus aufgearbeitet hat.

Ich habe nach Veröffentlichung seines Artikels im Historischen Jahrbuch für den Kreis Herford (2024) und (in einer demgegenüber etwas verkürzten Fassung) auf der Homepage der Mendel-Grundmann-Gesellschaft) die Thomas Gräfes Darstellung zugrunde liegenden Akten im Archiv der Stadt Vlotho, im Landesarchiv Detmold und im Archiv der Westfälischen Landeskirche in Detmold eingesehen. Zudem habe ich mich, was die im Archiv der Stadt Vlotho zu findenden Informationen betrifft, mehrfach im mündlichen Gespräch mit dem langjährigen Archivar der Stadt Vlotho, Herrn Rinne, ausgetauscht.

Die Frage, warum die Reformierte Gemeinde Vlotho in den zurückliegenden Jahrzehnten keine eigenen Nachforschungen angestellt hat, ist eine berechtigte Frage. Ich bin im Dezember 1993 Pastor der Reformierten Gemeinde Vlotho geworden. Ich habe sehr bald erfahren, dass das Pfarrhaus, indem meine Frau, unser Sohn und ich ungefähr 20 Jahre lang gelebt haben, in den 30er Jahren von der jüdischen Familie Grundmann gekauft worden ist. Ich habe verschiedene der aktiven Gemeindeglieder nach der Art des Zustandekommens des Kaufs befragt und dabei auch erfahren, dass die Gemeinde Anfang der 50er Jahre noch einmal einen Betrag von 10.000 DM an eine jüdische Institution gezahlt hat.

Walter Schneider, mein Mentor während meines Vikariats in der Reformierten Gemeinde Hannover (1989-1991) war ein wichtiger Anstoß dafür, dass ich begonnen habe, mich intensiv für die Fragen der Erneuerung des jüdisch-christlichen Verhältnisses zu interessieren.

Deshalb habe ich mich gefreut, als ich erfahren habe, dass es in Vlotho in der Mendel-Grundmann-Gesellschaft einen Verein gibt, der sich der Erinnerung an die verfolgten und ermordeten jüdischen Bürgerinnen und Bürger der Stadt Vlotho verpflichtet hat und mit seiner Arbeit zu einer Bekämpfung des Antisemitismus beitragen möchte. Von Helmut Urbschat, damals noch 1. Vorsitzender des Vereins, der gemeinsam mit Pastor Hermann Barth und einigen anderen die Mendel-Grundmann-Gesellschaft gegründet hat, bin ich gleich zu Beginn meiner Zeit als Pastor in Vlotho angesprochen worden, ob ich Mitglied im Verein werden wollte und dem habe ich gerne zugestimmt.

Pastor Barth habe ich leider persönlich nicht mehr kennengelernt, da er im Jahr vor Beginn meiner Tätigkeit in Vlotho verstorben ist. Die Gründe, warum ich persönlich keine eigenen Nachforschungen zum Ankauf der Villa Grundmann und dem späteren Wiedergutmachungsverfahren angestellt habe, haben sicher damit zu tun, dass es damals die Mendel-Grundmann-Gesellschaft und ihre Arbeit schon lange Zeit gab. Zu versuchen, die Gründe im Einzelnen darzulegen, sprengt den Rahmen dieses Beitrags. Jedenfalls haben Sie nichts damit zu tun, dass ich Befürchtungen gehabt hätte, was dabei herauskommen könnte.

Ich bin Thomas Gräfe, wie ich schon eingangs geschrieben habe, dankbar für alle für mich neuen Informationen, die er bei seinen Recherchen herausgefunden hat, auch da, wo sie ein kritisches Licht auf das Verhalten unserer alten Gemeinde werfen. Mir ist durch meine Besuche in den Archiven und durch das mehrfache Lesen seines Artikels auch deutlich geworden, dass, hätte ich eigene Nachforschungen angestellt, ich das nicht in der gleichen Art und Weise hinbekommen hätte, wie ihm das mit seinem Hintergrundwissen als Historiker möglich ist. Was nichts daran ändert, dass ich es im Rückblick bedauere, es nicht versucht und gegenüber verschiedenen Menschen nicht deutlichere Nachfragen gestellt zu haben.

Thomas Gräfe verweist in seinem Artikel zu Recht darauf, dass es sich bei dem Kauf der Villa Grundmann durch die Reformierte St. Johannis Gemeinde um einen Arisierungsvorgang gehandelt hat, da „aus gutem Grund nicht nur Verkäufe auf der Basis der 1938 geschaffenen Gesetze als Arisierungen (gelten), sondern jeder Übergang von jüdischem Grund- und Immobilienbesitz  in nichtjüdisches Eigentum im Dritten Reich.“ (Thomas Gräfe, Die Villa Grundmann in der Vlothoer Moltkestraße, Arisierung und Wiedergutmachung, S. 243f, in: Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford 2024, Band 31. Im Folgenden abgekürzt: Gräfe, Villa Grundmann).

Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang seine ausführliche Thematisierung der Hypothek von 35000 Goldmark, die am 20. Mai 1927 auf die Essener Firma Adolf Grundmann zu Lasten des Grundstücks in der Moltkestraße 2 eingetragen und erst nach Zustandekommen des Kaufvertrags zwischen Minna Grundmann und der Ref. Gemeinde gelöscht worden ist.

Das Konsistorium der Westfälischen Landeskirche hatte für eine Genehmigung des Kaufs der Villa Grundmann die Belastungsfreiheit des Grundstücks zur unabdingbaren Voraussetzung gemacht. Ohne die Tilgung der Schuld durch Familie Grundmann wäre kein Kaufvertrag zustande gekommen.

Thomas Gräfe hat für mich überzeugend dargelegt:

  1. zum einen, dass der Wertverlust – wie er in dem in Relation zur Höhe der Hypothek (35000€) deutlich niedrigeren Verkaufspreis von 28500 RM zum Ausdruck kommt – auf die Auswirkung der Arisierungspolitik der Nationalsozialisten zurückzuführen ist: „Es war ein niedriger, aber marktüblicher Preis. Die Tatsache, dass viele Menschen gleichzeitig ihre Häuser, Wohnungen und Grundstücke verkaufen mussten, drückte die Immobilienpreise.“ (ebenda, S. 245) „Es wurde kein Geschäft auf Augenhöhe getätigt, aber die Transaktion erfolgte immerhin noch unter Marktbedingungen“.
  2. zum anderen, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt, wie Familie Grundmann mit Hilfe des beim Verkauf erhaltenen Preises die Flucht von Familienmitgliedern ins Ausland hätte finanzieren können. Die Hypothek war, wie oben bereits erwähnt, auf das Unternehmen der Essener Firma Adolf Grundmann, Verwandtschaft der Vlothoer Familie Grundmann, eingetragen. „Das einst prosperierende Modehaus war aufgrund der nationalsozialistischen Politik nicht in der Lage, (die Schuld) abzutragen“, schreibt Thomas Gräfe. „Das Geschäft (des Essener Modehauses) wurde 1936 „arisiert“, und man konnte den neuen Eigentümer kaum bitten, für Altschulden aufzukommen. So standen Minna Grundmann bzw. ihre Vlothoer Verwandten in der Haftung.“ (ebenda, S. 245).

Minna Grundmann, bzw. ihr Sohn Erich, der durchgehend die Verhandlungen und den Schriftverkehr geführt hat, sind zunächst 1935 und dann erneut 1936 mit einem Verkaufsangebot an die Reformierte Gemeinde herangetreten. Erich Grundmann hat im Sommer 1936 darauf gedrängt, dass der Kauf doch jetzt endlich getätigt werden sollte (Schreiben von Erich Grundmann an Rechtsanwalt Niemeyer vom 25.08.1936, Archiv der Ref. St. Johannisgemeinde).

„Da wir Anfang September unaufschiebbare Verpflichtungen zu erfüllen haben, wären wir ihnen verbunden, wenn Sie dafür Sorge tragen würden, dass die Auflassung in den ersten Tagen endlich erfolgt.“ (Schreiben von Erich Grundmann an Rechtsanwalt Niemeyer vom 25.08.1936, Archiv der Ref. St. Johannis Gemeinde Vlotho, Akten zum Kauf des Pfarrhauses Moltkestraße 2.)

Nichtsdestotrotz hebt Thomas Gräfe zu Recht hervor, dass es aus Sicht der reformierten Gemeinde auf der Suche nach Ersatz für ihr baufällig gewordenes Pfarrhaus eine willkommene, günstige Gelegenheit war, davon Gebrauch zu machen. Die Gemeinde hat objektiv von den Auswirkungen der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten auf die Situation der Vlothoer Familie Grundmann und ihrer Essener Verwandten profitiert.

Auf einem anderen Blatt steht die Frage, wie ich selbst an Stelle von Pastor Kolfhaus und des Presbyteriums entschieden hätte.

Als Arisierungsvorgang hat der Kauf der Villa Grundmann der damaligen nationalsozialistischen Politik, jüdische Menschen zum Verlassen Deutschlands zu drängen, in die Hände gespielt. Andererseits wäre, wie wir heute im Nachhinein wissen, das Haus zwei Jahre später zwangsarisiert worden, ohne das die jüdische Familie dafür überhaupt Geld bekommen hätte.

Pastor Hermann Barth ist 1940, vier Jahre nach dem Kauf der Villa Grundmannn durch die Reformierte Gemeinde, deren Gemeindepastor geworden und ist das bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand (1963) geblieben. Er hat mit seiner Familie wie auch sein Nachfolger Gottfried Cremer und unsere eigene Familie in der jetzt als Pfarrhaus genutzten Villa Grundmann in der Moltkestraße 2 gewohnt.

Mit klaren Aussagen zu den von den Westalliierten vorgegebenen Rechtsgrundlagen beginnt Thomas Gräfe seine Ausführungen zum Wiedergutmachungsverfahren in den Nachkriegsjahren.

Im Militärregierungsgesetz Nr. 59 wurde festgelegt, „dass alle nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze (Stichtag 15.9.1935) getätigten Arisierungen rückerstattungspflichtig sind … Entsprechend der Anordnung der Besatzungsmächte stufte der Landkreis die Villa Grundmann mit Bescheid vom Oktober 1948 als ‚Wiedergutmachungsvermögen‘ ein. Damit war die Verpflichtung verbunden, berechtigte Ansprüche ehemaliger jüdischer Eigentümer durch Entschädigung oder Rückgabe abzufinden.“(Gräfe, Villa Grundmann, 247f)

Pastor Barth wurde als Vorsitzender des Presbyteriums 1948 von der britischen Militäradministration aufgefordert, die Umstände des Kaufs zu schildern. Der Kaufvertrag wurde am 12. Juni 1936 unterzeichnet, die Auflassung war am 3. September 1936.

Pastor Barth hat als Verkäufer der Villa Grundmann an die reformierte Gemeinde den Kaufmann Michel Grundmann benannt, der das Haus zwar gebaut hat, aber bereits am 17.09.1910 verstorben ist. Diese Auskunft ist also nachweislich falsch. Aus den Dokumenten des Ordners der Reformierten Gemeinde, in dem sich die Unterlagen zum Ankauf des jüdischen Gebäudes befinden, geht eindeutig hervor, dass die Witwe Minna Grundmann die tatsächliche Verkäuferin war.

Wenn Pastor Barth in seiner Stellungnahme schreibt: „Der Besitzer befand sich seit langem – und zwar, wie die Kenner der damaligen Verhältnisse einstimmig bezeugen, im Wesentlichen nicht durch die Schwierigkeiten, die jüdische Firmen schon damals hatten, sondern durch nicht glückliche Geschäftsführung in einer schwierigen finanziellen Lage. Er wollte ins Ausland gehen, u.W. nach England. Darum wollte er seinen Besitz in Deutschland verkaufen“ (Beilage zur Erklärung von Pastor Barth vom 16.10.1948, Stadtarchiv Vlotho, C 415, Arisierung und Wiedergutmachung), so können sich diese Angaben in Wirklichkeit nur auf Erich Grundmann beziehen.

Aus welcher Quelle auch immer diese Falschinformationen stammen – Pastor Barth war bekanntlich erst seit 1940 Pastor der Gemeinde – der Versuch, sich einen Reim darauf zu machen, löst bei mir Ratlosigkeit aus. Ich habe keine nachvollziehbare Erklärung dafür. Wenn es, wie Thomas Gräfe erwägt, darum gegangen sein soll, davon abzulenken, dass Minna Grundmann, die tatsächliche Verkäuferin, alleinstehende Witwe war (Vgl Gräfe, Villa Grundmann, S. 249) so reibt sich dies zum Einen mit dem Wissen darum, dass ihr Sohn Erich Grundmann, Geschäftsführer der Papierfabrik Mosheim, durchgehend die Verhandlungen mit der reformierten Gemeinde geführt hat. Zum anderen: Ein einziger Blick in die Verkaufsakten, die Presbyteriumsprotokolle, Grundbuch, Stadtarchiv, ein Gang über den Jüdischen Friedhof, auf dem das Grab Michel Grundmanns und seiner Frau steht, hätte genügt, einen unterstellten Täuschungsversuch auffliegen zu lassen.

Ohne in irgendeiner Weise auf die grotesk falsche Darstellung von Pastor Barth in seiner Stellungnahme vom Oktober 1948 einzugehen, schreibt der Anwalt der Gemeinde, Rechtsanwalt Adriani, in seinem Bemühen, den Rückerstattungsantrag durch den Jewish Trust zurückzuweisen, am 25.2.1952: „Das Grundstück ist der Kirchengemeinde seinerzeit von der damaligen Eigentümerin Ww. Minna Grundmann geb. Meierhoff zu einem Preise von 25.000 RM angeboten worden, und zwar erstmalig durch notarielles Angebot vom 19. März 1935. Dieser Kaufpreis ist später im Verhandlungswege auf 28.500 RM erhöht worden. Nach dem notariellen Kaufvertrag vom 12. Juni 1936 ist der Kaufpreis bei der Auflassung in bar bezahlt worden. Der Kaufpreis ist nicht auf individuellen oder kollektiven Zwang zurückzuführen, sondern hatte seine Grundlage in der unabhängig von der politischen Entwicklung eingetretenen starken Verschuldung des Sohnes der Verkäuferin, Kaufmann Erich Grundmann. Dieser hat auch die gesamten Kaufverhandlungen mit der Kirchengemeinde geführt. Herr Grundmann hatte in Mitteldeutschland ein Fabrikunternehmen der Zigarrenindustrie, durch das er in starke Verschuldung geraten war.“(Rechtsanwalt Adriani an das Wiedergutmachungsamt beim Landgericht Bielefeld, 25.02.1952, Landesarchiv NRW, Abteilung Ostwestfalen Lippe (im Folgenden abgekürzt als: Adriani, Zurückweisung)

Dass nicht der 1910 verstorbene Michel Grundmann, sondern seine Witwe Minna Grundmann die Verkäuferin war und dass ihr Sohn die Verhandlungen mit der Reformierten Gemeinde geführt hat, ist hier von Rechtsanwalt Adriani zutreffend wiedergegeben, das Gleiche gilt für die Datierung des Verkaufsdatums, Juni 1936.

Nachprüfbare Belege dafür, dass die finanziellen Probleme von Michel Grundmann (in Wirklichkeit Erich Grundmann) in keinerlei Zusammenhang mit der Judenverfolgungen während der Nazizeit gestanden hätten (Pastor Barth) und dass die finanziellen Schwierigkeiten, in die Erich Grundmann „unabhängig von der politischen Entwicklung“ durch die Verschuldung seiner Zigarrenfabrik in Mitteldeutschland (Rechtsanwalt Adriani)“ (Adriani, Zurückweisung) geraten sei, werden von beiden nicht aufgeführt.

Thomas Gräfe verweist zu Recht darauf, dass die judenfeindliche Gesetzgebung schon gleich nach dem Wahlsieg der Nationalsozialisten 1933 ihren Anfang nahm und Benachteiligungen auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und somit auch im Wirtschaftsleben nach sich zogen. Die Nürnberger Rassegesetze waren zum Zeitpunkt des Kaufs der Villa Grundmann schon fast ein ganzes Jahr in Kraft (seit dem 15. September 1935) (Vgl. Gräfe, Villa Grundmann, S. 249)

Auf diesem Hintergrund erwecken die Aussagen von Pastor Barth und Rechtsanwalt Adriani den Eindruck der Schönfärberei und lassen an ihrer Glaubwürdigkeit zweifeln. Dasselbe gilt – mehrere Jahre nach der durch die Alliierten erzwungenen Kapitulation Nazideutschlands – für das hartnäckige Insistieren von Pastor Barth und Rechtsanwalt Adriani auf der Angemessenheit des Kaufpreises: „Der gezahlte Kaufpreis entsprach dem Wert des Grundstücks.“ (Adriani, Zurückweisung. Er verweist dazu auf das Taxierungsgutachten von Karl Tengeler) Pastor Barth hatte in seiner Stellungnahme vom Oktober 1948 sogar geschrieben: „Die Gemeinde bot ihm (fälschlich Michel Grundmann, tatsächlich Minna Grundmann bzw. Erich Grundmann, W.R.) den höchsten Preis und die besten Bedingungen und kaufte sie.“ (Erklärung Pastor Barth vom 16.10.1948, Stadtarchiv Vlotho, C415, Arisierung und Wiedergutmachung)

Die große Mehrheit des in Vlotho ansässigen Teils der Familie Grundmann – einschließlich Erich Grundmann, seiner Frau Dora und Selma Grundmann, an die der Stolperstein vor der ehemaligen Villa Grundmann in der Moltkestraße 2, erinnert -, haben den Holocaust nicht überlebt.

Pastor Barth hat mit seiner öffentlich geäußerten Kritik an der Rekrutierung minderjähriger Jugendlicher nur wenige Tage vor Kriegsende sein Leben aufs Spiel gesetzt. Zum Glück hat die Kugel eines Vlothoer Nazis, die ihn treffen sollte, ihr Ziel verfehlt.

Warum haben sich Pastor Barth, das Presbyterium und Anwalt Adriani Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre dennoch geweigert, die Auswirkung der judenfeindlichen Gesetzgebung schon Mitte der 30er Jahre sowohl auf die Höhe des von Familie Grundmann zu erreichenden Kaufpreises als auch als Ursache für die Verschuldung jüdischer Kaufleute in Rechnung zu stellen und die Berechtigung der Wiedergutmachungsforderungen anzuerkennen?

Ich hätte mir gewünscht, dass diese Anerkennung ohne Sorge um mögliche finanzielle Einbußen erfolgt wäre, auch wenn ich mir darüber bewusst bin, dass es leicht ist, so etwas mit dem Abstand von Jahrzehnten hinzuschreiben, ohne eine solche Entscheidung tatsächlich verantworten zu müssen.

Festzuhalten bleibt und darin ist Thomas Gräfe uneingeschränkt Recht zu geben: das Eingehen auf das Vergleichsangebot des Jewish Trust ist von Seiten der Gemeinde nicht aus freien Stücken erfolgt, sondern in der begründeten Befürchtung, dass eine Verhandlung vor dem englisch besetzten Berufungsgericht in Bielefeld zu einem für die Gemeinde ungünstigen Urteil führen wird.

Hatte Rechtsanwalt Adriani am 25. Februar 1952 die Wiedergutmachungsforderung mit der oben bereits angeführten Begründung auf der ganzen Linie zurückgewiesen, so hat er im Sommer 1953 dem Presbyterium nahegelegt, auf das Vergleichsangebot des Jewish Trust einzugehen. Dem ist das Presbyterium nicht umgehend gefolgt.

Stattdessen hat Pastor Barth in der Angelegenheit um einen zeitnahen Termin bei dem zuständigen Juristen der Landeskirche gebeten, um die Frage zu erörtern, ob die Gemeinde wirklich auf das Vergleichsangebot eingehen solle. (Anfrage von Pastor Barth an die Kirchenleitung, vom 13. 08.1953, Archiv der EkvW in Bielefeld, Akten der Reformierten Gemeinde Vlotho, 4,64-187, Pfarrhauserwerb 1936). Das Gespräch hat am 8.9.1953 stattgefunden. Aufschlussreich ist der handschriftliche Vermerk über Inhalt und Ergebnis des Gesprächs von Seiten des Landeskirchenamts: „Herr Pfarrer Barth/Vlotho sprach heute vor. Nach eingehender Unterrichtung wurde die Angelegenheit mit dem LK-Dir. scheint geraten, einen Prozess zu vermeiden und auf den Vergleichsvorschlag des jüdischen Treuhänders Dr. Wolff/Hannover einzugehen (11,000,-DM). Ob noch ein weiterer Abstrich zu erreichen ist, muss den späteren Verhandlungen überlassen bleiben.“ (Notiz über Gespräch der Kirchenleitung mit Pastor Barth, Archiv der EkvW in Bielefeld, Akten der Reformierten Gemeinde Vlotho, 4,64-187, Pfarrhauserwerb 1936).

Nicht haltbar sind demnach die Auskünfte, die ich in meinen ersten Dienstjahren in Vlotho bekommen habe, als ich mich nach dem Inhalt der Wiedergutmachungsverhandlungen erkundigt habe. Deren Tenor ging dahin, dass, im Unterstand zur Haltung von Rechtsanwalt Adriani, dass Presbyterium von Anfang an grundsätzlich bereit und willens gewesen sei, die von JTC geforderte Summe zu zahlen.

Die Vergleichssumme, die von der Reformierten Gemeinde dann am 04.01.1954 gezahlt wurde, belief sich auf 10.000 DM und lag damit um fast 10% unter dem von der JTC geforderten Betrag.

Nachvollziehbar sind zudem die Hinweise von Thomas Gräfe, dass die reformierte Gemeinde in dem Rechtsstreit davon profitiert hat, dass es einerseits in der Familie Grundmann keinen Erben und keine Erbin gab, die ihre Ansprüche persönlich hätten geltend machen können und dass andererseits die JTC als Treuhänderin mit einer so großen Anzahl von Fällen befasst war, dass er unmöglich allen Details des Verkaufs der Villa Grundmann an die Reformierte Gemeinde hätte nachgehen oder gar eine Rückgabe des jetzt als Pfarrhaus genutzten Gebäudes hätte fordern können.

Leider findet sich weder in dem Ordner der Reformierten Gemeinde, in dem die Dokumente der Kaufverhandlungen und des Kaufvertrags gesammelt sind, noch in den Presbyteriumsprotokollen aus den Jahren 1935/36, in denen der Kauf verhandelt und getätigt wurde und auch nicht in denen aus den Nachkriegsfahren, in denen es um das Wiedergutmachungsverfahren ging, ein expliziter Hinweis darauf, dass das Grundstück der Familie Grundmann mit 35.000 Reichsmark belastet war.

Gleiches gilt für die Stellungnahme von Pastor Barth vom Oktober 1948 und die Zurückweisung der Wiedergutmachungsforderung durch Rechtsanwalt Adriani (25.2.1952).

Mehrfach findet sich in den Dokumenten der Gemeinde lediglich die bereits  erwähnte Forderung des Konsistorium der Westfälischen Landeskirche, dass es einem Ankauf nur zustimmen wird, wenn das Gebäude nachweislich belastungsfrei ist.

Wenigstens den Mitgliedern des Presbyteriums zur Zeit der Verhandlungen und des Vertragsabschlusses muss das Vorliegen der Hypothek bekannt gewesen sein. Ohne vorherige Löschung der Hypothek wäre der Vertrag vom Konsistorium nicht genehmigt worden und daher auch nicht rechtskräftig geworden.

Die Jewish Trust Corporation hat sich an die Preisbehörde des Landkreises Herford gewandt und um Auskunft über den Kaufpreis des Grundstücks in der Moltkestraße 2 „z. Zt. der Einziehung im Jahre 1936 und von heute (1951, W.R.)“ gebeten. (16 – Preisbehörde des Landkreises Herford an die Amtsverwaltung in Vlotho, Stadtarchiv Vlotho C415, Arisierung und Wiedergutmachung)

Diese Anfrage hat die Preisbehörde am 26.06.1951 mit der Bitte um Ermittlung und postwendenden Bericht an die Amtsverwaltung in Vlotho weitergeleitet. Am Schluss Ihres Schreibens findet sich im Blick auf die Höhe des Kaufpreises der Hinweis an die Vlothoer Verwaltung: „Diese Feststellung wird beim Grundbuchamt Vlotho getroffen werden können.“ (Ebenda)

Die Jewish Trust Corporation hat auf ihre Anfrage folgenden Antworttext erhalten, indem sich nicht nur die Beantwortung ihrer beiden Fragen findet, sondern auch eine präzise Auskunft im Blick auf die Hypothek:

„Die Grundstücke sind von der Ev. ref. Kirchengemeinde im Jahre 1935 für 28.500,– RM erworben worden. Bei Abschluss des Kaufvertrages war das Grundstück mit 35.000 – RM Hypotheken belastet. Die Kaufsumme wurde s. Zt. zur Tilgung der Hypotheken bar ausgezahlt.

Von der Ev. .ref. Kirchengemeinde sind nach Abschluss des Kaufes bedeutende Verbesserungen an den Gebäuden vorgenommen worden. Der heutige Verkaufspreis wird daher auf 36.000.–DM geschätzt.“ (Antwortschreiben der Preisbehörde des Landkreises Herford an die JTC, Stadtarchiv Vlotho, C415, Arisierung und Wiedergutmachung.

Eine Abschrift ging an die Amtsverwaltung Vlotho, die den Eingang per Stempel vom 26.7.1951 bestätigt hat. (Vgl. ebenda).

Es existiert ein weiteres Dokument, das die gleichen Antwortinformationen enthält. Es ist adressiert an die Preisbehörde der Kreisverwaltung. Als Absenderangabe ist auf dem Foto lediglich ein Namenskürzel zu finden. Dieses Kürzel findet sich auf verschieden Dokumenten, die aus der Stadtverwaltung Vlotho stammen und sich Ordner C415 des Stadtarchivs Vlotho befinden (Amt Vlotho (?) an Preisbehörde des Landkreises Herford) Der Betreff in beiden Dokumenten lautet: „Rückerstattung des ehem. jüdischen Grundbesitzes Michel Grundmann/Ev.-ref. Kirchengemeinde Vlotho.“

Das Kaufdatum in beiden Dokumenten ist nachweislich falsch: 1935 statt 1936. Der Unterschied der beiden Jahreszahlen ist von erheblichem Gewicht. Das Militärregierungsgesetz Nr. 59 setzt im Artikel 4 als Stichtag den 15. September 1935 (Datum der Nürnberger Rasse-Gesetze), nach dem grundsätzlich alle Rechtsgeschäfte angefochten werden können, da eine Zwangslage der Veräußerers angenommen werden kann.

Thomas Gräfe geht davon aus, dass die Angaben, die die Anfrage des JTC beantworten – inklusive der falschen Jahreszahl – aus der Reformierten Gemeinde stammen: „Sie (die Antwort auf die Anfrage der JTC, W.R.) ist nicht von Pastor Barth unterzeichnet, die Angaben müssen aber von Seiten der reformierten Gemeinde gekommen sein. (Gräfe, Villa Grundmann, S. 260, Anmerkung 25).

Im Blick auf die falsche Jahreszahl schreibt Thomas Gräfe: „Ein gezielter Täuschungsversuch dürfte die Zurückdatierung des Kaufs auf 1935 sein. Aufgrund der Stichtagsregelung wäre das Geschäft rückerstattungsfrei geblieben, wenn es ein Jahr früher getätigt worden wäre.“ (Gräfe, Villa Grundmann, S. 251)

Die Auskunft, dass die Angaben nur aus der Reformierten Gemeinde stammen können und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen, sind der einzige Punkt in der Darstellung von Thomas Gräfe, der bei mir Anfragen aufwirft, die ich bei meinen eigenen Recherchen nicht schlüssig habe auflösen können. Ich werde sie im Folgenden zu formulieren versuchen.

Vor der Beantwortung der durch die Preisbehörde des Landeskreises Herford übermittelten Anfrage der JTC wurde Pastor Barth als Vertreter der Reformierten Gemeinde Vlotho für den 19.7.1951 von der Stadtverwaltung gemeinsam mit vier weiteren Personen zu einer dringlichen Besprechung über Rückerstattungsangelegenheiten ins Rathaus bestellt. Ich teile ausdrücklich das Bedauern von Thomas Gräfe (Vgl. ebenda), dass über den Inhalt dieser Besprechung leider nichts überliefert ist.

So wie ich ihn verstehe, geht er davon aus, dass sich die mündlichen Angaben von Pastor Barth während der Besprechung in dem Antwortschreiben der Stadtverwaltung an die Preisbehörde  wiederfinden. Deshalb spricht er durchweg von einer zweiten Stellungnahme von Pastor Barth und schreibt diesem ausdrücklich die Urheberschaft für sämtliche Angaben im Antwortschreiben der Stadtverwaltung zu (vgl. 251f) (Vgl. Gräfe, Villa Grundmann S. 251f)

Die Stellungnahme von Pastor Barth vom 16. Oktober 1948 ist auf einem Fragebogen der britischen Militäradministration und einer formlosen Beilage festgehalten. Beide sind von Pastor Barth eigenhändig unterschrieben. Kaufdatum und Kaufpreis sind mit Juli 1936 und 28500 RM korrekt wiedergegeben.

Ein vergleichbares Dokument, dass die Herkunft der Angaben im Antwortschreiben an den JTC vom Sommer 1951 belegt, habe ich weder im Landesarchiv Detmold, im Landeskirchlichen Archiv in Bielefeld noch im Stadtarchiv Vlotho finden können.

Im Dokument „Claim for restitution of property“26(Antrag auf Rückerstattung, 25.10.1950, Landesarchiv, Abteilung Ostwestfalen-Lippe), das als Bezug die „Anzeige der Ref. Gemeinde (Pastor A. (sic!) Barth vom 16.10.1948“ benennt und das den Stempel der Central Claims Registry vom 25. Oktober 1950 (und einen weiteren Stempel der JTC in Hamburg), finden sich u.a. folgende Angaben:

– Geschädigter: Kaufmann Michel Grundmann (entsprechend der falschen Angabe von P. Barth, WR)

– Fand der Kaufvertrag unter Nötigung (englisch duress, Zwang, WR) statt? ja, (Kaufvertrag Juli 1936)

– Welche Gegenleistung wurde im letzteren Fall gewährt? Angeblich: 28.500

Die Angaben aus der Ref. Gemeinde (Pastor Barth) von 1948 waren demnach der JTC zum Zeitpunkt ihrer Anfrage bei der Preisbehörde des Landkreises Herford bekannt.

Die Tatsache, dass die JTC ihre Anfrage nach Kaufpreis im Jahre 1936 und Wert des Grundstückes im Jahr 1951 an die Preisbehörde in Herford (und nicht etwa an die Reformierte Gemeinde gerichtet hat), signalisiert für mich, dass es ihr um unabhängig belegbare Auskünfte ging. (Claim for restitution of property im Blick auf die Angabe von Pastor Barth: „angeblich 28500 RM“).

Dem trägt der Hinweis des Oberkreisdirektors an die Verwaltung in Vlotho Rechnung, sich bei der Ermittlung des Kaufpreises bei der Veräußerung an das Grundbuchamt zu wenden.

In der Grundakte des Grundbuchamts findet sich im Notariatsregister aus dem Jahre 1936 unter der Nummer 175 der Text der Auflassung vom 3. September 1936 mit der Angabe des Kaufpreises. Das Wiedergutmachungsamt des Landgerichts Bielefeld hat am 19. Februar 1952 eine beglaubigte Abschrift dieses Dokuments ausgestellt (für wen und aus welchem Anlass ist mir nicht bekannt) (Notariatsregister, Nr. 175, Auflassung vom 03.09.1936, Landesarchiv, Abteilung Ostwestfalen-Lippe). Natürlich findet sich im Grundbuchamt auch die Auskunft über das Vorliegen der Hypothek von 35000RM und der Termin von deren Löschung am 04.09.1936.

Beide Auskünfte finden sich im Antwortschreiben an die Preisbehörde des Landkreises Herford, obwohl die JTC (zumindest explizit) nicht danach gefragt hatte.

Ich hatte bereits oben (Vgl. oben S. 5) darauf hingewiesen, dass ich in keiner der verschiedenen Gemeindeunterlagen eine Erwähnung des tatsächlichen Vorliegens einer Hypothek gefunden habe, geschweige denn die Nennung des Betrages von 35000 RM. Das einzige, was ich gefunden habe, ist, wie bereits oben vermerkt, der wiederholte Hinweis des Konsistoriums, dass eine Genehmigung des Kaufs die Belastungsfreiheit zur Voraussetzung hat.

Wie passt dazu die Vermutung, dass die Auskunft über die Hypothek und die Tilgung derselben mit der bar ausgezahlten Kaufsumme gerade aus der reformierten Gemeinde kommt?

Zweifelsohne ist die Auskunft über die Existenz der Hypothek und deren Löschung im unmittelbaren Zusammenhang der Auflassung für den weiteren Verlauf des Wiedergutmachungsverfahren von großer Bedeutung gewesen.

Stammt sie tatsächlich aus der Reformierten Gemeinde, setzt sie sich damit selbst in Spannung zu der Auskunft von Pastor Barth in seiner Stellungnahme vom Oktober 1948, der im Zusammenhang der Kaufsumme von finanziellen Schwierigkeiten und einer beabsichtigten Auswanderung ins Ausland gesprochen hatte. (Dazu, dass es sich bei dieser Person definitiv nicht um den 1910 verstorbenen Michel Grundmann handeln konnte, siehe bereits oben)

Am 25. Februar 1952, also fünf Monate nach dem Antwortschreiben der Preisbehörde des Landkreises Herford an die JTC, beantragt Rechtsanwalt Adriani im Namen der Ref. Gemeinde in seinem Schreiben an das Wiedergutmachungsamt Bielefeld, die Rückerstattungsforderung zurückzuweisen. (Adriani, Zurückweisung)

Das Datum des Verkaufs ist nicht anders als von Pastor Barth im Oktober 1948 korrekt mit 12. Juni 1936 angegeben. In der Begründung seines Antrags korrigiert Anwalt Adriani stillschweigend die falschen Angaben von Pastor Barth zur Person des Verkäufers. Er benennt, wie es den Tatsachen entspricht, die Witwe Minna Grundmann als Verkäuferin und ihren Sohn Erich Grundmann als denjenigen, der die gesamten Kaufverhandlungen mit der Reformierten Gemeinde geführt hat. Was die Beurteilung des Verkaufs betrifft, bewegt er sich dagegen auf der gleichen Linie wie Pastor Barth im Oktober 1948.

Eher noch entschiedener als Pastor Barth fast dreieinhalb Jahre zuvor, beharrt er auf der Überzeugung, dass der Kaufpreis von 28500RM, den die Gemeinde an Familie Grundmann gezahlt hat, angemessen gewesen sei und dem tatsächlichen Wert des Gebäudes entsprochen habe. Er beruft sich dazu auf das Ergebnis der durch die Gemeinde damals veranlassten Schätzung des Gebäudewerts durch den Taxator Karl Tengeler (28425,80 RM), die nahezu identisch mit dem Kaufpreis gewesen ist.

Er bestreitet jeglichen Zusammenhang zwischen der starken Verschuldung der Zigarrenfabrik von Erich Grundmann in Mitteldeutschland, die zum Drängen des Sohnes von Minna Grundmann auf ein baldiges Zustandekommen des Verkaufs geführt habe, und der judenfeindlichen Politik und Gesetzgebung der im Sommer 1936 seit dreieinhalb Jahren an der Macht befindlichen Nationalsozialisten.

Genauso vergeblich sucht man nach einer Erwägung der Ursachen für die Diskrepanz zwischen der Höhe der 1927 auf das Haus aufgenommenen Hypothek von 35000 GM und der Summe des Kaufpreises von 28500 RM, in der sich der seitdem eingetretene Wertverlust des Gebäudes von ca. 20% widerspiegelt. Anwalt Adriani betont, dass die Kaufsumme in bar ausgehändigt worden sei. Die Erwähnung des Vorliegens der Hypothek findet keinerlei Erwähnung. Stattdessen schreibt er: „Die Verkäuferin ist in den vollen Genuss des Kaufpreises gekommen, da ihr das Geld bei der Auflassung bar ausgehändigt wurde.“ (Ebenda)

Dass die Informationen über die von der Reformierten Gemeinde seit 1936 vorgenommenen bedeutenden Verbesserungen, mit der im Antwortschreiben der Preisbehörde an die JTC die Schätzung des Verkaufspreises im Jahre 1951 auf 36000 DM begründet wird, aus der Reformierten Gemeinde stammt, ist naheliegend. Was in den knappen Sätzen dieses Schreibens unter dem Wort  „Schätzung“ zu verstehen ist, wird nicht erläutert. Eine Schätzung durch einen vereidigten Taxator wäre sicher im Sinne der JTC gewesen. Aber ist dafür unter dem Druck, dass die JTC eine baldige Antwort erwartete, überhaupt Zeit gewesen? Und wenn ja, wer hat sie veranlasst und die Kosten übernommen?

Wenn es keine unabhängige Schätzung gab, konnte sich die Verwaltung in ihrer Antwortpflicht gegenüber der Preisbehörde und der JTC mit einem durch das Presbyterium der Reformierten Gemeinde (der Beklagten im Wiedergutmachungsverfahren) geschätzten aktuellen Verkaufswert begnügen?

Alles Fragen, die mir in den Sinn kommen, aber von denen ich nicht weiß, wie ich sie verlässlich beantworten soll.

Die Gründe, warum es mir Mühe bereitet, der Auffassung von Thomas Gräfe, dass die Angaben zur Beantwortung der Anfrage der JTC nur aus der Reformierten Gemeinde kommen können, habe ich darzulegen versucht.

Erklärungsbedürftig bleibt das Zustandekommen der falschen Jahreszahl des Verkaufes: 1935 statt 1936. Stammt die falsche Angabe tatsächlich aus der Reformierten Gemeinde, haben sich ihre Urheber nicht nur in offensichtliche Widersprüche zu früheren und späteren Aussagen verstrickt, sondern sich einer strafrechtlichen Handlung schuldig gemacht. Folgt man den Argumenten in meiner Darlegung und stellt das in Frage, so muss man der Verwaltung in Vlotho, die die Angaben an die Preisbehörde geschickt hat, Unachtsamkeit/Versehen unterstellen. Denn: welches Interesse sollte sie an einer Vor-Datierung des tatsächlichen Verkaufs gehabt haben?

Eine dritte Alternative kann ich auf Grund meiner aktuellen Kenntnisse des Aktenbestandes nicht erkennen.

Meine Anfragen an die Darstellung von Thomas Gräfe in diesem einen, sicher gewichtigen Punkt, ändern nichts an dem, was ich bereits zu Beginn meines Textes betont habe und hier noch einmal wiederholen möchte: Ich bin froh, dass Thomas Gräfe sich dieses Themas angenommen, sorgfältig dazu recherchiert und dabei Dinge zutage gefördert hat, von denen ich bis dahin nichts gewusst habe, auch wenn es sich dabei um eine Reihe von unbequemen Wahrheiten handelt, die teilweise in Widerspruch zu mündlichen Auskünften stehen, die ich auf meine eigenen Nachfragen in unserer ehemaligen Gemeinde bzgl. des Ankaufs der Villa Grundmann und dem Wiedergutmachungsverfahren in der Nachkriegszeit erhalten habe.

Ich benenne zusammenfassend noch einmal die wichtigsten:

  • Die Existenz der zum Zeitpunkt des Kaufs der Villa Grundmann auf dem Gebäude lastenden Hypothek von 35000RM, die erst mit Hilfe des am 3. September bar ausgezahlten Kaufpreises am 4. September von Familie Grundmann aus dem Grundbuch gelöscht werden konnte und damit alle Spekulationen/Behauptungen über eine Nutzung des Geldes zur Ermöglichung einer Flucht/Übersiedlung ins Ausland hinfällig macht.
  • Die nichtzutreffende Nennung des 1910 verstorbenen Michel Grundmann statt seiner Witwe Minna Grundmann durch Pastor Barth in seiner Stellungnahme vom 16.10.1948 gegenüber der britischen Militärbehörde, obwohl alle Unterlagen der Gemeinde Minna Grundmann als Verkäuferin benennen und 1948 weiterhin Personen Mitglied im Presbyterium waren, die auch schon zur Zeit des Verkaufs im Sommer 1936 dazu gehörten.
  • Die in allen Äußerungen aus der Gemeinde während des Wiedergutmachungsverfahrens durchgehende Bestreitung der Auswirkung der judenfeindlichen Politik und Gesetzgebung der Nationalsozialisten auf die Höhe des von Familie Grundmann zu erzielenden Kaufpreises
  • die finanzielle Notlage, in die Unternehmungen der Familie Grundmann geraten waren (Die Firma A. Grundmann in Essen und Erich Grundmann mit seiner Zigarrenfabrik in Mitteldeutschland). Damit einhergehend das Beharren darauf, dass die Höhe des Kaufpreises dem Wert des Gebäudes entsprochen habe und die finanziellen Schwierigkeiten von Erich Grundmann auf Eigenverschuldung beruhten.
  • Keine erkennbaren inhaltlichen Differenzen zwischen der Bestreitung des Rückerstattungsanspruchs durch Rechtsanwalt Adriani und der Position des Presbyteriums. Pastor Barth sucht das Gespräch mit dem Landeskirchenamt in dem Bewusstsein, dass eine gerichtliche Verhandlung an Stelle des Eingehens auf das Vergleichsangebot zu einem negativeren Ausgang für die Gemeinde führen würde.
  • Das Eingehen auf das Vergleichsangebot ist nur unter Druck zustande gekommen. Wäre es möglich gewesen, hätte die Gemeinde versucht, die Vergleichssumme noch weiter herunterzuhandeln. Es lassen sich keine Hinweise in den Akten finden, die eine positive Einstellung zur Berechtigung des Wiedergutmachungsanspruchs von Familie Grundmann belegen könnten

Die Kritik von Thomas Gräfe daran, dass es in der Reformierten Gemeinde in all den Jahren keine Bemühungen gegeben hat, den Ankauf der Villa Grundmann und das Verhalten im Wiedergutmachungsverfahren kritisch aufzuarbeiten, ist berechtigt.

Gerade angesichts dessen, was Thomas Gräfe bei seinen Recherchen herausgefunden hat, bedauere ich es, dass ich mich, nachdem ich 1993 Pastor der Gemeinde geworden bin, mit dem Umstand zufrieden gegeben habe, hier bei meinem Dienstbeginn 1993 in der Mendel-Grundmann-Gesellschaft einen Verein vorgefunden zu haben, dessen vorrangiges Satzungsziel das Erinnern an die verfolgten und ermordeten jüdischen Bürger und Bürgerinnen Vlothos ist und der sich deshalb kritisch mit der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit insbesondere in Vlotho auseinandersetzt.

Aber auch, dass ich nicht versucht habe, mündlichen Aussagen einzelner Personen aus der Gemeinde genauer auf den Grund zu gehen. Sicher haben auch die Berichte über die kritische Haltung Pastor Barths zum Nationalsozialismus dabei eine Rolle gespielt.

1993 lagen Kauf der Villa Grundmann und das Wiedergutmachungsverfahren ca. 40 bzw. 50 Jahre zurück. Pastor Barth habe ich persönlich leider nicht mehr kennengelernt. Er ist 1992 verstorben. Aber mit dem Wissen von heute, dass ich zum größten Teil Thomas Gräfe verdanke (auch meine eigenen Recherchen und was ich im Laufe der letzten anderthalb Jahre dabei herausgefunden habe, sind ja durch seinen Artikel angestoßen) hätte ich Menschen, die zeitlich viel näher an den Ereignissen, um die es hier geht, gelebt haben, viel gezieltere, hartnäckigere Fragen stellen können.

Winfried Reuter