Thomas Gräfe hat recherchiert

Dreieinhalb Jahre Zuchthaus für eine versteckte Schreibmaschine – NS-Verfolgte in Vlotho: Der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz (27.1.1945) sollte ursprünglich nicht nur an den Holocaust erinnern, sondern an alle Opfer des Nationalsozialismus. Das gilt eigentlich auch für die Stolpersteine. Doch gab es in Vlotho überhaupt nichtjüdische NS-Verfolgte?

Stolpersteine, die an sie erinnern, gibt es jedenfalls nicht. Prominente Historiker wie Götz Aly und Michael Wildt schildern das Dritte Reich als Zustimmungsdiktatur. Die Bevölkerung habe sich so sehr für die nationalsozialistische Volksgemeinschaftsideologie begeistert, dass sie Krieg und Holocaust widerspruchslos hingenommen habe. Das ist nicht grundsätzlich falsch, ignoriert aber die Früh- und Spätphase des Regimes.

Von der Machtergreifung bis etwa Mitte 1934 waren sich die Nationalsozialisten auch in Vlotho der allgemeinen Zustimmung keineswegs sicher. Vielmehr setzten sie auf Verfolgung, Einschüchterung und Bespitzelung. 13 Vlothoer Sozialdemokraten und Kommunisten wurden im März 1933 auf der Grundlage der so genannten Reichstagsbrand-Verordnung in „Schutzhaft“ genommen. Einer von ihnen starb an Misshandlungen während der Haft. Mindestens 20 Personen wurden montagelang von der Gestapo observiert, darunter alle Vlothoer Pastöre.

Widerstand der Vlothoer Kommunisten

Die meisten westfälischen Presbyterien waren in den Händen der Bekennenden Kirche und verweigerten nazitreuen Geistlichen die Nutzung der Kirchen. In Vlotho sahen sich die Bekenntnispfarrer Oberwelland (Valdorf) und Barth (St. Johannis) massiven Anfeindungen ausgesetzt. Zwei Pastöre aus Nachbargemeinden wurden ins KZ Dachau gebracht, weil sie gegen Judenverfolgung und T4-Aktion gepredigt hatten. Der zahlenmäßig bedeutendste Widerstand kam von Vlothoer Kommunisten, die eine Untergrundgruppe mit rund 40 Mitgliedern bildeten.

1934 wurden 15 Arbeiter zu langen Zuchthausstrafen verurteilt, weil sie Flugblätter verteilt hatten und illegale Parteiarbeit betrieben. Bereits das Einsammeln von Mitgliedsbeiträgen und das Verstecken einer Schreibmaschine wurden vom Oberlandesgericht als „Vorbereitung zum Hochverrat“ gewertet. Eine gute Vorstellung von der Größenordnung des Widerstands gibt das Referendum über die Zusammenlegung der Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten im August 1934, bei dem in Vlotho trotz Terror und Propaganda 25 Prozent mit „Nein“ stimmten. Doch man musste nicht Widerstandskämpfer sein, um in Konflikt mit Partei, Polizei und Justiz zu geraten.

Angst in der "Zustimmungsdiktatur"

Oft genügte schon ein politischer Witz, ein unbedachtes Wort oder die Denunziation eines Nachbarn. Vlothoern, die in einem jüdischen Geschäft einkauften, das Einschlagen von Fensterscheiben in jüdischen Häusern zur Anzeige brachten, den Hitlergruß verweigerten oder sich den Schlägertrupps der HJ in den Weg stellten, dürfte oft gar nicht bewusst gewesen sein, dass sie sich oppositionell verhielten. Und doch sind Fälle dokumentiert, in denen Personen für solche Handlungen von den Nationalsozialisten bedroht oder gemaßregelt wurden. Auffällig ist allerdings, dass politische Verfolgungen überwiegend in der Anfangsphase des Regimes aktenkundig wurden.

Eine Mischung aus wirtschaftlichem Aufschwung, außenpolitischen Erfolgen, Einschüchterung, Indoktrination und Propaganda sicherte den Nationalsozialisten auch in Vlotho eine breite Zustimmung. Die moralische Kompromittierung war dort am stärksten, wo die NS-Barbarei materielle Mitnahmeeffekte ermöglichte. Im Rahmen des Novemberpogroms 1938 sind in Vlotho keine Widerstandshandlungen dokumentiert. Die Gestapo registrierte lediglich eine Verstimmung in der Bevölkerung über sinnlose Zerstörungswut. Die Arisierung, bei der sich auch Barths reformierte Gemeinde bediente (Villa Grundmann in der Moltkestraße), verlief geräuschlos. Während der Deportationen sorgte man sich mehr um die Verteilung des jüdischen Eigentums als um das Schicksal der Deportierten.

Niederlage des Dritten Reiches

Erst mit der Niederlage von Stalingrad 1943 und dem Attentat auf Hitler 1944 sah sich das Regime genötigt, die Zügel wieder anzuziehen. Bestraft wurden nun vorwiegend militärische Dienstvergehen, defätistische Äußerungen oder das Abhören ausländischer Sender. Vier Vlothoer wurden ins Konzentrationslager Börgermoor verschleppt. Neun Vlothoer Widerständler starben im Zuchthaus oder an den Folgen von Haft und Zwangsarbeit. Wer Gefängnis oder Konzentrationslager überlebte, wurde zum berüchtigten Bewährungsbataillon 999 eingezogen, ein für Regimegegner und Deserteure eingerichtetes „Himmelfahrtskommando“. Auch für Vlotho gilt: Wer im Dritten Reich eine Zustimmungsdiktatur sieht und die Volksgemeinschaftsphrasen für bare Münze nimmt, verkennt seinen repressiven Charakter und schätzt die Handlungsspielräume der Zeitgenossen falsch ein.

 

Autor dieses Beitrags ist Thomas Gräfe, 2. Vorsitzender der MGG.

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