Die zerstörte Vlothoer Synagoge

Im Kommunalarchiv sind neue Unterlagen zum 10. November 1938 in Vlotho aufgetaucht. Die jüdische Geschichte Vlothos im Dritten Reich ist ausführlich untersucht worden von Manfred Kluge, der für die Mendel-Grundmann-Gesellschaft mehrere Bücher dazu veröffentlichte. Um so erstaunlicher ist es, dass im Kommunalarchiv Herford noch im Jahr 2022 neue Unterlagen dazu auftauchten.

Die junge Archivarin Anna Vogt hatte sie gefunden und Inge Wienecke, die gerade an einem anderen Vlothoer Thema forschte, auf neu entdeckte Dokumente zur jüdischen Geschichte Vlothos aufmerksam gemacht. Eine Akte, die ihren Titel „Verschiedenes 1942-1948“ zu Recht trägt, enthält unterschiedliche Dokumente aus einer turbulenten Zeit: Der damalige Landrat August Griese wies 1948 Bauern an, Fleisch zur Verfügung zu stellen. Waldbesitzer mussten bestimmte Mengen Brennholz abliefern.

Es gab die „Sammel-Erlaubnis für Ebereschen“. Schulkinder wurden losgeschickt, um Bucheckern zur Ölgewinnung und Kräuter wie Ackerschachtelhalm und Kamille zu sammeln. In dieser Zeit war die Grundversorgung der Bevölkerung ein vorrangiges und lebensnotwendiges Anliegen.

Überfälle und Verurteilungen

Nathan Speier

Doch es sollte doch um Dokumente zur jüdischen Geschichte gehen? Ganz am Ende der angelegten Akte fand Inge Wienecke einen Briefwechsel aus den Jahren 1946/1947. Die „Witwe Paul Juchenheim“ schrieb an Adolf Simon und er antwortet ihr. Inhaltlich geht es in mehreren Briefen um die Überfälle auf Vlothoer Juden am 10. November 1938 und die Verurteilung der NS-Täter nach 1945.

Was passierte in Vlotho am 10.11.1938? Der polnische Jude Herschel Grünspan hatte ein Attentat verübt auf den deutschen Diplomaten von Rath in Paris. Das wurde von der NS-Führung zum Anlass genommen, im großen Stil in einer inszenierten Empörung gegen die jüdische Bevölkerung sowie jüdische Geschäfte und Einrichtungen vorzugehen. Man versuchte (natürlich vergeblich), es wie einen spontanen „Volkszorn“ gegen die Juden aussehen zu lassen. Deshalb gab die Gestapo-Zentrale Anfang November 1938 eine Anweisung heraus: „Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden, insbesondere gegen deren Synagogen, stattfinden. Sie sind nicht zu stören.“

„Spontanen Volkszorn“ verschlafen

Diese Aktionen fanden im gesamten Deutschen Reich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 statt („Reichskristallnacht“). In Vlotho jedoch hatte man diesen Termin wohl verschlafen und führte die judenfeindlichen Aktionen am 10. November 1938 am helllichten Tag durch. Los ging es am Morgen des 10. November 1938 gegen 9 Uhr. Heinrich Pohlmann, damals Lehrling bei der Amtsverwaltung Vlotho, beobachtete auf seinem routinemäßigen Weg zur Post vier Männer, die mit Äxten und Vorschlaghammern aus dem Rathaus kamen und zu der nahen gelegenen Synagoge gingen.

Drei von ihnen erkannte er als seine Vorgesetzten. Auf seinem Rückweg von der Post blickte er vorsichtig in die Synagoge hinein und sah, wie die vier Männer Kronleuchter und Harmonium zerschlugen und wild herumtanzten. Erst im Alter traute sich der pensionierte Verwaltungsbeamte Pohlmann im Jahr 1991, ihre Namen anzugeben: Es waren Gustav Vogt, Vollziehungsangestellter in der Amtsverwaltung Vlotho und SS-Sturmführer Wilhelm Krumme, Vollziehungsbeamter der Amtsverwaltung und SA-Rottenführer sowie Siegfried Kambartel, Angestellter der Amtsverwaltung Vlotho und SA-Mann. Den vierten Mann kannte Pohlmann nicht.

Möbel aus Fenstern geworfen

Henriette Speier

Gegen Mittag am 10. November 1938 beobachteten mehrere Zeugen, wie das Textilkaufhaus Loeb (am Kirchplatz) überfallen wurde. Es war das letzte noch existierende jüdische Geschäft in Vlotho. Ein SA-Trupp zerschlug mittel mitgebrachten Hämmern alle Glasvitrinen und Möbel, die dann aus dem Fenster geworfen wurden. Stoffe wurden zerschnitten und Bekleidung mit Marmelade beschmiert. Der Geschäftsinhaber Gustav Loeb wurde grundlos festgenommen und ebenso wie weitere acht jüdische Männer aus Vlotho im arbeitsfähigen Alter in das KZ Buchenwald deportiert, wo Loeb drei Monate bleiben musste, um danach die „Arisierung“ seines Geschäftes zwangsweise vorzubereiten.

Am Nachmittag des 10. November 1938 fanden Überfälle auf jüdische Privathäuser und Wohnungen in Vlotho statt. Fünf SA-Männer, angeführt von dem Vlothoer Kinobesitzer Paul Exner, zogen zum Haus von Nathan („Sally“) und Henriette Speier an der Höltkebruchstraße 9. Die Eheleute Adolf und Elfriede Simon wohnten bei ihnen zur Miete. Die SA-Männer wurden von einem Trupp Kinder und mehreren erwachsenen Vlothoern begleitet. Viele Anwohner beobachteten das Geschehen. Die Täter, die dort wüteten, waren wohlbekannt. Dennoch konnten sich später, als es zum Prozess kam, merkwürdigerweise nur noch wenige Zeugen an die Namen der Beteiligten erinnern.

Mutige Aussage vor Gericht

Einer derjenigen, die vor Gericht mutig aussagten, war Karl Kordes. Er beschreibt, „dass ein Trupp Uniformierter zur Höltkebruchstraße zog. Ich bin hinterher gegangen und sah bei dem Hause Speier, in dem auch die jüdische Familie Simon wohnte, Folgendes: Eine Anzahl Uniformierter war in dem Haus am Toben. Ich sah u. a. den Paul Exner, den ich genau kannte. Er war dabei, oben im Haus mit einer Stange... die Fenster einzuschlagen. Nach einiger Zeit kam er herunter und sperrte die Haustür auf, Ich bemerkte, dass im Hausflur alles Mögliche an Möbeln und sonstigem Gerät zerschlagen durcheinander lag. Ich sah in Exner den Anführer derer, die im Hause waren, die ich auf fünf bis sieben Mann schätze. Nach einiger Zeit kam Exner aus dem Haus heraus und hatte ein Stück von einer geschlachteten Ziege... in der Hand und rief nun noch höhnisch, indem er das Fleischstück hochhielt: `Eine Ziege!`, worauf die Kinder, die umherstanden, laut aufjohlten. Dann warf er das Fleischstück auf den Trümmerhaufen im Hausflur. Andere Personen, die sich an der Zerstörung beteiligten, habe ich nicht erkannt. Exner jedoch führte sich eindeutig als Anführer auf.“ (Aus den Prozessakten 1948/49).

Auch die Nachbarin Frieda Schröder schildert unter Namensnennung der Täter, was sich abspielte. Paul Exner habe mit seinem Spazierstock mehrere Fenster und die kurz vorher neu angelegte Badeeinrichtung zerstört. Frieda Schröder hatte während des Überfalls Nathan und Henriette Speier sowie Adolf und Elfriede Simon in ihr Haus gerufen. Zudem schildert sie, dass die Eheleute Speier und Simon kurz darauf auf den Amtshausberg geflohen seien. Als sie am nächsten Morgen zurückkamen, mussten sie feststellen, dass „alles zertrümmert“ war. Adolf Simon hatte der Zeugin noch mitgeteilt, dass er einen Koffer mit Goldsachen vermisse. Er sei ihm gestohlen worden.

Misshandelt und verhaftet

Andere jüdische Bürger Vlothos wurden sogar misshandelt, wie Paula Juchenheim und ihr Sohn Hans, die von dem Viehhändler Fritz Kortemeyer brutal auf den Rücken geschlagen wurden. Mehrere jüdische Männer wurden grundlos verhaftet und in Konzentrationslager verbracht. Die später vernommenen Zeugen behaupten aber, nichts von all dem mitbekommen zu haben wie der Kaufmann Heinrich K., dessen Geschäft genau gegenüber der Höltkebruchstraße 9 lag. Die Nachbarin von Familie Mosheim an der Hochstraße sagt als Zeugin aus, dass sie sich vor allem durch Glasscherben von dem zerstörten Nachbarhaus Mosheim belästigt gefühlt habe. Viele der Vlothoer NS-Täter selbst behaupten, dass die beschriebenen Taten von SA- und SS-Leuten von außerhalb begangen worden seien. Sie selbst wären angeblich nur anwesend gewesen, um die Juden zu beschützen.

Briefe nach Brasilien

Zurück zu dem wieder entdeckten Briefwechsel: Adolf Simon und seiner Ehefrau Elfriede war es gelungen, am 25.11.1940 von Vlotho nach Sao Paolo in Brasilien auszuwandern, wo bereits ihr Sohn Alfred seit 1936 lebte. Dort bekam Adolf Simon 1946 Post von Frieda Juchenheim, die er aus Vlotho kannte. Friederike (Frieda) Juchenheim, geborene Überwasser, war selbst keine Jüdin, sondern evangelische Christin. Sie hatte in Vlotho den Juden Paul Juchenheim geheiratet, der Artist von Beruf war. Beide lebten in Vlotho an der Herforder Straße 33. Während eines Aufenthaltes in den Niederlanden 1936 führte die Polizei in der gemeinsamen Wohnung eine Hausdurchsuchung durch, bei der angeblich belastende Briefe gefunden wurden. Paul wurde gewarnt und blieb in Holland. Darauf kam seine Frau für drei Monate in sogenannte „Schutzhaft“ in das Gefängnis in Bielefeld. Nach der Haftentlassung folgte Friederike Juchenheim ihrem Mann in die Niederlande. Am 9.4.1943 wurde Paul Juchenheim bei einem Konflikt von einem deutschen Unteroffizier in Holland erschossen.

Im Jahr 1946 schrieb Frieda Juchenheim von Amsterdam aus an Adolf Simon, Rua Augusta 2037 e 2939 in Sao Paolo/ Brasilien. Dieser Brief selbst ist nicht erhalten, wohl aber der Antwortbrief von Adolf Simon, der detailliert auf die Informationen von Frieda Juchenheim eingeht, Sein Brief ist undatiert, er wird in den Prozessunterlagen am 9.5.1947 als zuvor gefertigte amtliche Abschrift erwähnt. Adolf Simon zählt die vielen Menschen auf, die von den Nazis ermordet wurden und geht (irrigerweise) davon aus, dass viele der NS-Täter mittlerweile hinter Schloss und Riegel säßen. Gegen den von ihm beschuldigte NSDAP-Ortsgruppenleiter von Vlotho, Ponsilius, wird später mangels Zeugen erst gar nicht Anklage erhoben. Der Name des Vlothoer Kinobesitzers fällt Adolf Simon zwar nicht mehr ein, aber es ist Paul Exner, der besonders eifrig mit seinem Krückstock die jüdischen Wohnungen zerstört hat, wofür es mehrere Zeugen gibt.

Außerdem beschuldigt er „Kaiser von der Gewerbebank“, „Süllwald vom Millionenweg“ und Pecher. Zynisch verweist er auf die großen Plakate mit NS-Parolen, die in allen öffentlichen Gebäuden hingen: „Was ich bin, bin ich durch Euch und was Ihr seid, seid Ihr durch mich.“ Da habe Hitler ein wahres Wort geschrieben, denn derzeit sei Deutschland ein Trümmerhaufen und zwar durch den braunen Massenmörder. Adolf Simon, der inzwischen ein großes Teppichgeschäft betreibt, sagt Frieda Juchenheim zwei große Pakete mit Lebensmitteln zu. Sie solle mehrere Freunde in Vlotho grüßen: Deneke, seinen Angelfreund Sprang, Familie Knöner und Dina Tatge, wenn die noch lebe.

Die Namen der Täter

Gemäß der Aufforderung durch Adolf Simon setzte sich Frieda Juchenheim im September 1946 mit dem Vlothoer Amtsdirektor Lücking in Verbindung und teilte ihm die Namen von NS-Tätern mit. Sie beschuldigt u. a. den Viehhändler Fritz Kortemeyer der Körperverletzung und August Hauptmüller und Wilhelm Krumme des Diebstahls. Der Amtsdirektor Lücking leitete dies sogleich schriftlich an das Sonderdezernat des Landkreises Herford weiter. Zudem erwähnt er, dass die beschuldigten Personen noch keinen Fragebogen beim Denazifizierungsausschuss eingereicht hätten. Solche Fragebögen seien in Vlotho nicht mehr vorrätig.

Da Paul Exner inzwischen in Köln lebte, brachte die Kölner Synagogengemeinde die Taten 1948 zur Anklage vor dem Schöffengericht Bielefeld. Dort wurde am 14.3.1949 Paul Exner zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit, Fritz Lipskoch zu sechs Monaten Gefängnis. Herbert Schmidt und August Mowe kamen mit je drei Monaten Gefängnis davon. Ausgerechnet Wilhelm Krumme wurde freigesprochen. Weitere Beschuldigte wie Fritz Kortemeyer, August Hauptmüller, Ponsilius, Süllwald und Pecher wurden gar nicht erst angeklagt.

Das Teppichgeschäft Simon unter der angegebenen Adresse in Sao Paolo/ Brasilien gibt es noch heute. Als Inhaber wird Kurt Simon angegeben. Der Versuch, mittels eines Briefes (auf Portugiesisch) an ihn als möglichen Enkel oder Urenkel Weiteres zu erfahren, scheiterte leider. Der Brief kam nach einigen Monaten zurück.

Von MGG-Mitglied Inge Wienecke; ein gekürzter Zeitungsartikel ist in der Vlothoer Zeitung am 10. November 2022 erschienen („Vor 84 Jahren in Vlotho“).

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