(Begleittext zur aktuellen Schaufenster-Ausstellung der Mendel-Grundmann-Gesellschaft, Lange Str. 142) Die Mendel-Grundmann-Gesellschaft hat ihr Schaufenster, Lange Straße 142, erneut umgerüstet. Fünf Großplakate widmen sich nun dem Thema „Schicksale jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Vlotho“.

Der Vorstand der Mendel-Grundmann-Gesellschaft hofft, dass mit diesem Thema besonders Schülerinnen und Schüler der hiesigen Schulen angesprochen werden. Der folgende Text enthält im zweiten Teil weiterführende Literaturhinweise, die zu einer intensiveren Beschäftigung mit den Einzelschicksalen anregen sollen.

Nach dem Novemberpogrom 1938, als die Nationalsozialisten auch in Vlotho die jüdische Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt hatten, waren die hier verbliebenen Juden sehr verunsichert. Ihre größte Sorge galt ihren Kindern. Wie konnten sie ihre Kinder in Sicherheit bringen?

Sicherheit in Holland

So entschlossen sich Alwin und Paula Juchenheim schon im Januar 1939, ihre Kinder Lore (13 Jahre) und Hans (11 J.) zu Verwandten nach Holland zu bringen. Ebenso verhielten sich die Eltern von Werner und Günter Katz. Günter (13 J.) brachten sie Anfang 1939 nach Bergen/NL, Werner (14 J.) einen Monate später nach Rotterdam. Sie selbst folgten im Mai 1939 nach.

Andere Familien stellten Überlegungen an, ihre Kinder im Rahmen so genannter „Kindertransporte“ nach England oder Frankreich zu verschicken. So bemühten sich Gustav und Helene Loeb im Frühjahr 1939, ihre Tochter Marianne (damals 17 Jahre alt), bei einer Familie in England unterzubringen. Als dieses scheiterte, wollten sie ihre Tochter von einem amerikanischen Ehepaar adoptieren lassen! Sohn Hans, der im August 1938 schon in die USA ausgewandert war, hatte die Kontakte hergestellt. Aber auch dieser Plan erwies sich als undurchführbar. Jutta (genannt Marianne) Silberberg sollte mit einem von Baron Rothschild finanzierten Kindertransport nach Frankreich gebracht werden, was sich aber auch zerschlug. Auch der Plan von Klara Frank, mit ihrer Tochter nach Groß-Britannien auszuwandern, scheiterte.

So blieben viele Bemühungen der jüdischen Familien, ihre Kinder dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entziehen, erfolglos. Auch die Flucht in die Niederlande war letztlich vergeblich, denn nach dem Einmarsch deutscher Truppen wurden auch dort die Juden systematisch verfolgt.

Auf das tragische Schicksal von Lore und Hans Juchenheim soll ausführlicher eingegangen werden. Alwin Juchenheim führte die von seinem Vater gegründete Getreide- und Futtermittelhandlung an der unteren Langen Straße (Lange Straße 16) weiter. Die Juchenheims waren eine recht wohlhabende Familie. Die Kinder besaßen teures Spielzeug. Hans war schon stolzer Besitzer eines Tretautos. Lore und Hans besaßen Rollschuhe, mit denen sie gern in der glatt gefegten Getreidehalle herumfuhren. Hinter dem Haus hatte der Vater Turngeräte aufgestellt, die Lore und Hans, aber auch die Nachbarkinder, gern nutzten. Diese Einzelheiten hat uns eine Zeitzeugin, die mit Lore befreundet war, berichtet.

Das Schicksal der Juchenheims

Lore, geb. am 25. 5. 1926, war ein hübsches, schlankes Mädchen. Sie besuchte die Ballettschule in Bad Oeynhausen und nahm Klavierunterricht in Vlotho. Außerdem lernte sie Hebräisch bei ihrem jüdischen Lehrer. Nach der vierten Klasse der Volksschule besuchte Lore zunächst die Höhere Stadtschule in Vlotho. Ostern 1938 wechselte sie auf ein Mädchen-Gymnasium in Bad Oeynhausen, die Luisenschule. Diese Schule musste sie aber schon am 15. 11. 1938 verlassen, denn auf Grund eines NS-Erlasses wurden alle jüdischen Schüler nach dem Novemberpogrom von den deutschen Schulen verwiesen. Sie begann nun eine Ausbildung zur Schneiderin.

Von Hans, geb. am 25. 10. 1928, wissen wir nicht viel. Auf einem Foto, das ihn als Grundschüler mit seinem christlichen Schulfreund zeigt, erscheint er uns als ein freundlicher, aufgeweckter Junge. Er wurde übrigens von allen nur „Hansemann“ gerufen. Das Schulverbot traf ihn schon als Grundschüler der 3. Klasse.

Von den Gewalttaten am 10. November 1938 war auch die Familie Juchenheim betroffen. Ein Trupp von Nationalsozialisten war in das Haus eingedrungen und hatte die Wohnungseinrichtung demoliert. Paula Juchenheim, die Mutter, war zusammen mit Hans aus dem Haus geflüchtet. Sie wurde aber von einem rabiaten SA-Mann verfolgt und misshandelt. Alwin Juchenheim, der Vater, wurde festgenommen und als „Schutzhäftling“ in das KZ Buchenwald gebracht.

Nach dem Schock des Novemberpogroms brachten die Eltern die Kinder Lore und Hans im Januar 1939 zu Verwandten in Zandaam (NL). Dort hielt sich bereits seit 1935 Emma Juchenheim, die Großmutter, auf. Auch als die deutschen Truppen das Land besetzten, verblieben die Kinder in Holland. Als aber Anfang Dezember 1941 die Eltern, die in Vlotho verblieben waren, den Deportationsbefehl bekamen („Evakuierung in den Osten“), standen die Eltern vor einer schwierigen Entschei-dung: Sollten die Eltern die Kinder in Holland bei den Verwandten lassen oder sie nach Vlotho zurück holen?

Zusammenhalt der Familie

„Wenn wir gehen müssen, gehen wir zusammen!“, war die Entscheidung des Vaters und sie beorderten die Kinder nach Vlotho zurück. Die Familie Juchenheim war die erste Familie, die aus Vlotho deportiert wurde. Der Transport ging nach Riga, dann nach Kaunas. Später trennten sich die Wege. Mutter und Tochter kamen nach Stutthoff, wo beide verschollen sind. Vater und Sohn kamen zurück ins Reichsgebiet – nach Dachau, wo der Vater den Tod fand. Hans konnte die Befreiung des KZ Dachau noch erleben, er starb aber an den Folgen der Haft am 2. Juni 1945.

Besonders erwähnt werden sollte auch Ruth Mirjam Windmüller. Sie war mit fünf Jahren die jüngste Deportierte und ist auch das jüngste Holocaust-Opfer aus Vlotho. Bei der Verlegung der Stolpersteine vor dem Haus Heynemann, Lange Straße 83, haben wir ihr das folgende Gedicht gewidmet:

 

In dieser Straße liefst du mit bunten Kinderträumen.

In diesem Hause schliefst du in wohl geschützten Räumen.

In die Ferne gingst du mit Ängsten und mit Bangen.

In der Fremde warst du im Ghetto bald gefangen.

In der fernen Stadt ging der Tod kalt und grausam um.

Du musstest so früh sterben. Warum? Warum? Warum?

(nach einer Idee von SchülerInnen des Wesergymnasiums)

 

Einzelschicksale in der Übersicht:

Lore Juchenheim, Gedenkbuch S. 9 -15, geb. 25.05.1926, 13.12.1941, deport. Riga, später Kaunas, 19.07.1944 nach Stutthoff verschollen

Hans Juchenheim, Gedenkbuch S. 9 - 15, geb. 25.10.1928, 13.12.1941 deport. Riga, später Kaunas, 01.08.1944 Dachau, Tod nach Befreiung: 02.06.1945

Werner Katz, Gedenkbuch S. 24 - 28, geb. 28. 02. 1925, 21. 02. 1939 ausgew., NL Nov. 1942 interniert Westerbork/NL, 18.01.1944 deport. Theresienstadt, 16.05.1944 deport. Auschwitz, 1944/45 Bergen-Belsen, Tod nach Befreiung: 31.05.1945

Günter Katz, Sie waren Bürger… S. 257f., geb. 01.07.1926, 06.01.1939 ausgew. NL, Nov. 1942 interniert Westerbork/NL, 18.01.1942 deport. Theresienstadt, 28.09.1944 deport. Auschwitz/Blechhammer, 21.01.1945 deport. Groß-Rosen 13.02.1945, befreit 1950, ausgew. in die USA 1953, Tod durch Verkehrsunfall

Marianne Frank, Gedenkbuch S. 57 - 59, geb. 14.10.1923, 20.10.1937 verzogen nach Leipzig, 21.01.1942 deport. Riga, 01.10.1944 Stutthoff, Tod in Stutthoff: 12.01.1945

Marianne Loeb, Wir wollen weiterleben… S. 104-107, geb. 10.02.1922, Krankenschwester-Ausbildung in Berlin, an Scharlach erkrankt und 01.08.1941 verstorben in Berlin, beigesetzt in Hannover

Gerda Mosheim, Gedenkbuch S. 88 - 91, geb. 23.05.1924, 31.03.1942 deport. Warschau, verschollen

Ruth Mirjam Windmüller, Gedenkbuch S. 43, geb. 18.03.1937, 31.03.1942 deport. Warschau, verschollen

Jutta (gen. Marianne) Silberberg, Sie waren Bürger… S. 242f., (später: verh. Gottesman) Gedenkbuch S. 36 - 38, geb. 24.06.1927, Juden in Handel u. Wandel S. 46-47, 31.07.1942 deport. Theresienstadt, 06.10.1944 deport. Auschwitz, 28.10.1944 deport. Gr.-Rosen, 08.05.1945 befreit, 1947 ausgew. in die USA, 03.08.2008 verstorben in New York

Literatur:

Gedenkbuch für die Vlothoer Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung, Vlotho 2008 (zitiert als Gedenkbuch)

Juden in Handel und Wandel der Weserstadt Vlotho, Ausstellungsbegleitbuch, Vlotho 2001 (zitiert als Juden in Handel und Wandel)

Sie waren Bürger unserer Stadt - Beiträge zur Geschichte der Juden in Vlotho, 2. erw. Auflage, Löhne 2013 (zitiert als Sie waren Bürger…, 2013) 

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